Theodor Koch-Grünberg bei der Arbeit, 1911/13 (Zwischen Sammelwut & Forschungsdrang. Koloniale Kontexte in Gießen)

Zwischen Sammelwut & Forschungsdrang. Koloniale Kontexte in Gießen

06.05.2022 - 15.01.2023 

Die ethnographische Sammlung des Oberhessischen Museums gehört mit über 1.000 Objekten zu den größten und vielfältigsten in Hessen. Doch warum und auf welchem Weg kamen Objekte aus den unterschiedlichen europäischen Kolonien des südamerikanischen und afrikanischen Kontinents nach Gießen? Das untersucht aktuell eine Ausstellung mit dem Titel „Zwischen Sammelwut & Forschungsdrang. Koloniale Kontexte in Gießen“. Welche Frage werden gestellt und diskutiert?

Die Kuratoren des Museums erforschen seit zwei Jahren geradezu detektivisch die Sammlungsbestände an ethnografischen Objekten, die aus Tansania, Kamerun und dem Amazonasbecken stammen. Vor allem die Frage, auf welchen Wegen die Objekte nach Gießen kamen, steht dabei im Mittelpunkt. Dabei werden die beiden Sammler wie Theodor Koch-Grünberg, und Reinhard Houy vorgestellt, die beide Anfang des 20. Jahrhunderts Reisen nach Südamerika, bzw. Ostafrika unternahmen. Mit welchen Motiven waren sie unterwegs, was wurde gesammelt, was hat sie interessiert? In welchen Kontexten wurden die Objekte erworben, was weiß man über sie und über ihre Funktion, von wo stammen sie genau, von welchem Stamm, welchem Volk, welchem Ort?

Wie werden diese Themen in der Ausstellung präsentiert?

Durch die Objekte selbst und viele begleitende Texte, Fotografien und Bilder. Zum einen werden die Netzwerke und persönlichen Kontakte der Sammlerszene aufgedeckt, die es in Mittelhessen gab. Außerdem sieht man Landkarten, die die Wege der einzelnen Expeditionen aufzeigen, teilweise auch Fotografien, die auf den Expeditionen entstanden: man sieht Menschen der Dorfgemeinschaften bei handwerklichen Tätigkeiten wie Körbe flechten oder Maniok schaben, sogar eine der ersten Filmaufnahmen, die vor Ort gedreht wurden. Es wird dargelegt, wie die Reisen zustande kamen, wer sie finanziert hat, was ihre Ziele waren. Über den Boden laufen immer wieder Spruchbänder, die verschiedene Stationen der Ausstellung miteinander in Verbindung bringen. Darauf steht dann z.B. "Sammlung, Werte, Prestige". Oder "Mord, Widerstand, Ignoranz". So werden lauter kleine Kapitel aufgemacht, die es dem Laien ermöglichen, sich diesem recht komplexen Thema Kolonialismus anzunähern.

Koloniale Expeditionen haben ja nun, wie es der Titel bereits verrät, in kolonialen Kontexten stattgefunden. Also in einem Machtgefälle. Da ist es naheliegend, zu vermuten, dass viele, wenn nicht die meisten der Objekte der ethnografischen Sammlungen nicht in gegenseitigem Einverständnis erworben wurden.

Das ist sicher für viele der Objekte zutreffend. Koloniale Expeditionen wurden gerne als exotisches Abenteuer aufgefasst, man verstand sich als Herr über Land und Leute und ließen sich mit viel Aufwand und Manpower durch Steppen tragen und über Flüsse schippern. Expeditionen dienten der Einflusserweiterung z.B. durch Kartierung bestimmter Gebiete oder waren von vornherein auf die Beschaffung "exotischer" Objekte ausgerichtet, also man fuhr hin, um zu plündern - mehr oder weniger. Von einigen wenigen Objekten, die in der Sammlung in Gießen zu finden sind, kennt man die Zusammenhänge.  Das emotionalste ist ein großer Lederschild. Solche Schilde wurden von der Gruppe der Wahehe benutzt, die sich erbittert gegen die Unterwerfung ihres Landes wehrten. Er wurde vermutlich 1894 beim Sturm auf die befestigte Hauptstadt des Chiefs Mkwawa bei Iringa erbeutet. Mkwawa war ein erfolgreicher Kriegsführer, der um als freier Mann zu sterben, sich nach dem Fall seiner Festung selbst tötete. Sein Kopf wurde als Trophäe nach Deutschland gebracht und erst 1954 nach Iringa zurückgeführt.

Sollte man ein solches Stück, das Symbol des Wiederstands gegen die Kolonialisierung ist, dann nicht nach Tanzania zurückgeben?

Genau diese Frage habe ich bei der Führung auch gestellt. Simson Sanga von der NGO farhari yetu, einem tansanischen Museum und Kulturzentrum, meinte dazu, dass die Anwesenheit dieser Objekte in Deutschland, die mit ihrer Geschichte ausgestellt werden, zu einer Bewusstheit auf die Geschichte der Kolonialzeit beitragen - und deswegen in Deutschland verbleiben sollten. Und auch, dass diese Bewusstwerdung eine Brücke zwischen den Kulturen und den Menschen schlagen kann. Es wird in der Ausstellung aber auch deutlich, dass nicht alle Herkunftsgeschichten sind rekonstruierbar sind. Viele "blinde Flecken" werden wohl für immer bleiben. Nur in Ausnahmefällen sind historische Quellen zu den unzähligen Expeditionshelfer*innen, den Träger*innen, Übersetzer*innen, Produzent*innen der Objekte dokumentiert. Die Ausstellung leistet einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der Kolonialgeschichte und macht den notwendigen Umgang mit den ethnografischen Sammlungen in unserer Gegenwart sichtbar.

Zwischen Sammelwut & Forschungsdrang.
Koloniale Kontexte in Gießen
Oberhessisches Museum, Altes Schloss,1. OG

bis 15.1.2023

Sendung: hr2-kultur, 17.5.2022, 7:35 Uhr