Drei Damen sitzen im Seniorenheim vor dem Fernseher und schauen Germanys Next Topmodel, eine Tante versucht ihre Nichte in Kambodscha zu erreichen und drei Freundinnen sehen sich nach langer Zeit wieder. Eine ist schwanger, die andere macht Karriere, die Dritte nicht. In drei Teilen zeichnet Julia Wolf ein poetisches Panorama von drei Frauengenerationen, die auf unterschiedlichste Weise im Leben stehen. Wie ein Schatten liegt über ihnen allen der Krieg, der unter die Teppiche der kleinbürgerlichen westdeutschen Haushalte gekehrt wurde.  

Marjellchen | Wir begegnen Hannelore, Else und Anni die noch um die schönsten Zähne konkurrieren und ihren persönlichen Prinzen im Pfleger der Nachschicht finden. Obwohl sie sicher im Sessel vor dem Fernseher sitzen, verfolgt sie noch immer die eigene Flucht.

Neue Heimat, Altes Haus | Wir hören Tante Gudrun und Mutter Gerlinde bei einer Sprachnachricht an ihre Nichte und Tochter zu, die sich schon vor Jahren nach Kambodscha aus dem Staub gemacht hat. Die Großmutter, Mutti, ist gerade gestorben, das Erbe muss geregelt werden. Tante Gudrun kommt ins Erzählen – von ihrer Kindheit in den fünfziger Jahren, von Ehemännern, von Krebs und von Scheidungen. Ob ihre Nichte, Tini, sich bei ihr meldet?

MILF | Und wir wohnen dem Reunion-Wochenende von Jenny, Undine und Thao bei, Mitdreißiger und ehemals beste Freundinnen, deren Lebenswege in sehr verschiedene Richtungen führen. Thao hat sich ein Pferd gekauft und steht mit beiden Beinen im Job, Jenny hört jeden Morgen die Herztöne ihres ungeborenen Kindes ab und Undine hat noch eine Miete auf dem Konto und schwimmt durchs Leben. Dann platzt die Fruchtblase.

Die Autorin, Julia Wolf, wurde 1980 in Groß-Gerau geboren und lebt heute in Berlin und Leipzig. Für ihr literarisches Schaffen wurde sie vielfach ausgezeichnet. Beim Ingeborg Bachmann Wettbewerb 2016 bekam sie so etwa für den Ausschnitt aus ihrem Roman "Walter Nowak bleibt liegen" den 3sat Preis. "Walter Nowak bleibt liegen" wurde außerdem mit dem Nicolas-Born-Debütpreis ausgezeichnet und war für den Deutschen Buchpreis nominiert. Für ihren aktuellen Roman "Alte Mädchen" wurde Julia Wolf mit dem Robert Gernhardt Preis 2018 ausgezeichnet.  

Aus der Laudatio von Alf Mentzer zum Robert Gernhardt Preis 2018: "Julia Wolf schreibt nicht Ereignisgeschichte; sie schreibt Bewusstseinsgeschichte. (...) Über spezifische Wahrnehmungskonstellationen erzeugt sie eine poetische Realität, in der Bilder, Kontexte, Wörter und Sätze in Bewegung geraten. Insofern arbeitet sie nicht am Abbild des westdeutschen Nachkriegsmilieus; sie arbeitet am Bewusstsein dieses Milieus und erweitert die Möglichkeiten, sich darüber zu verständigen. Sie erweitert die Wahrnehmungs- und Sprechmöglichkeiten und schafft damit ein Bild des Nachkriegsmilieus, das man so noch nicht gesehen hat, ein Bild, das unsere Möglichkeiten, zu sprechen, neu justiert und mit den Grenzen des Sprechens auch die Grenzen unserer Welt erweitert."

Sprecherin: Melanie Straub
Regie: Marlene Breuer
Technik: Josuel Theegarten
Besetzung: Heike Oehlschlägel
Assistenz: Sara Glahe
Redaktion: Marit Zickermann & Julika Tillmanns

hr / 2022

Julia Wolf: Alte Mädchen
Frankfurter Verlagsanstalt
288 Seiten
September 2022

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Sendung: hr2-kultur, "Lesung", 21.09.2022, 9:05 - 9:30 Uhr.