hr2-kultur Literatur: Egon Erwin Kisch

Unter all den genialen Zeitungsleuten der Weimarer Zeit dürfte Egon Erwin Kisch der bekannteste Journalist gewesen sein. Er gilt als Vater der modernen Reportage. Die Sammlung "Der rasende Reporter" wurde zu seinem zweiten Vornamen. hr2-kultur präsentiert eine Auswahl mit Geschichten über Kischs Heimatstadt, seine Tätowierungen, die Reisen und das mexikanische Exil - zum 75. Todestag jenes Mannes, der praktisch jedem ein Vorbild ist, der journalistisch schreibt.

Die Lesung in hr2-kultur Mo-Fr um 9:30 Uhr und 14:30 Uhr in 5 Folgen - und alle Folgen von 27. März bis 27. Juni auch in der ARD Audiothek

Prager Ziehung

Die Reihe beginnt mit einer Reportage aus der Zeit als Kisch Anfang Zwanzig und noch ein junger Lokalreporter in seiner Heimatstadt Prag war. Er schrieb für die renommierte Zeitung "Bohemia", und hatte früh ein Gespür für spannende Stoffe und besondere Orte. Kisch schrieb über das Milieu von Kleinkriminellen, genauso wie über Straßenmusikanten oder Glückspieler. In seiner Reportage "Prager Ziehung" führt er uns in den Ziehungssaal der Prager Lotterie, zur öffentlichen Ziehung der Lose per Glücksrad. Das Spektakel zog freilich ein buntes Völkchen von Glückssuchern an.

Sprecher: Bodo Primus, hr 1998

Meine Tätowierungen

Egon Kisch, den zweiten Vornamen Erwin gab er sich später selbst, wurde am 29. April 1885 in Prag als Sohn eines jüdischen Tuchhändlers geboren. Die Familie sprach Deutsch. Nach dem Besuch der Deutschen Staatsschule und dem Beginn eines Literaturstudiums, musste der junge Mann allerdings erstmal seinen Militärdienst ableisten. Die Vorgesetzten der k.u.k.-Armee hielten ihn indes für einen Anarchisten und so verbrachte er einen Großteil des Jahres 1904 im Arrest. Aus dieser Zeit stammt die erste seiner Tätowierungen, die später den gesamten Körper zieren sollten.

Sprecher: Wolfgang Condrus, WDR 1985

Mittwoch in Kaschau

Stoff für seine Reportagen fand Kisch von Beginn an auf Reisen. Gleich nach der Schule besichtigte er die Prager Umgebung, bereiste Ungarn, Österreich und Bayern. Später zog es ihn in die fernsten Ecken Europas, aber z.B. auch nach Nordafrika, China oder in die Sowjetunion. In seinem berühmten ersten Reportageband, "Der rasende Reporter" von 1925, erschien die Schilderung eines "Mittwoch in Kaschau". Einen solchen Markttag wird man im heutigen Košice, der zweitgrößten Stadt der Slowakei, wohl kaum mehr erleben.

Sprecher: Christian Rode, NDR 1984

Schollenjagd und Haifischfang

Die Reportage "Schollenjagd und Haifischfang" erschien 1926 in dem Band "Hetzjagd durch die Zeit". Kisch war inzwischen als Soldat im Ersten Weltkrieg gewesen, hatte sich dann Österreichs revolutionärer Bewegung an vorderster Front angeschlossen und war seit 1919 Mitglied der Kommunistischen Partei. In Berlin schrieb er nun für zahlreiche Zeitungen, vom "Berliner Börsen-Courier" über die "Weltbühne" bis hin zur "Roten Fahne". Sein Interesse galt den einfachen Menschen, den Arbeitern und Tagelöhnern. Für den vorliegenden Text schiffte sich der Reporter in Hamburg-Finkenwärder ein, um die Lebensbedingungen einer Fischkuttermannschaft zu schildern.

Sprecher: Wolfgang Condrus, WDR 1985

Indiodorf unter dem Davidstern

Als Jude und Kommunist war Egon Erwin Kisch gleich doppelt im Visier der Nationalsozialisten. Nach dem Reichstagsbrand wurde er verhaftet, kurz darauf aus Deutschland ausgewiesen. Im Exil engagierte er sich im antifaschistischen Widerstand, die Exilstationen führten ihn über die Tschechoslowakei, nach Australien, wieder zurück nach Europa in den Spanischen Bürgerkrieg, und schließlich in die USA und nach Mexiko. Aus seinem letzten Reportageband "Entdeckungen in Mexiko" stammt einer seiner bedrückendsten Texte. In einem "Indiodorf unter dem Davidstern" erinnert er sich auch an die ermordeten jüdischen Mitglieder seiner eigenen Familie. Egon Erwin Kisch starb 1948 in Prag – am 31. März vor 75 Jahren.

Sprecher: Ludwig Thiesen, hr 1980