"Gregorianik" ist der Name für die Liturgiegesänge der westlichen Kirche. Die Gesänge sind rund 1.200 Jahre alt – da ist das Verständnis von Tradition gefragt. Ist 1200 Jahre alte Musik traditionell, also Teil des musikhistorischen Museums, oder ist sie modern?

Schließlich erfreut sich der gregorianische Gesang durchaus einiger Beliebtheit, wird sogar im Konzert gesungen und erklimmt gelegentlich die Charts der Popmusik. Stefan Klöckner, Professor für Musik des Mittelalters und Musikwissenschaft an der Folkwang-Hochschule in Essen, erzählt im hr2-Doppelkopf, wie diese Musik entstand – als ausdrucksvoll gesprochener, dann gesungener Text, normiert durch kirchenpolitische Bestrebungen, weitergegeben durch männliche und weibliche Mönche, die die Melodien täglich sangen und sie auf Reisen weitergaben, bis sie in ganz Westeuropa heimisch wurden.

Zur Verbreitung trug damals die einheitliche Kultursprache Latein bei. Als man später ein System erfand, den gregorianischen Choral aufzuschreiben, änderte sich der Zugang – aus Musik, die im Gedächtnis der Menschen haftete, wurde übers Papier erlernbare Kunst – eine Zäsur in der Musikgeschichte! Dennoch müssen Aufführungen und Interpretationen stets viele Fragen lösen. Stefan Klöckner, von manchen augenzwinkernd als "Gregorianik-Papst" bewundert, weiß aus Erfahrung:
Gregorianik lernen und singen geht jedenfalls nicht von heute auf morgen. Stefan Klöckner spricht mit Andreas Bomba über diese besondere Form künstlerischer Spiritualität und warum sie, nach wie vor, viel mehr als bloße Traditionspflege darstellt.

Gastgeber: Andreas Bomba

Musiktitel dieser Sendung:
- Puer natus est / Choralschola der Abtei Münsterschwarzach, Godehard Joppich
- Hildegard von Bingen: O virtus sapientiae / ensemble sequentia
- Heinrich Schütz: Cantocum Simeonis, aus: Musikalische Exequien SWV 281 / Dresdner Kammerchor, Ltg. Hans-Christoph Rademann
- Richard Strauss: Nun der Tag mich müdgemacht / Gundula Janowitz, Berliner Philharmoniker, Herbert von Karajan
- Franz Schubert: Streichquintett C-Dur D 956, Satz 2: Adagio / Gautier Capuçon, Quatuor Ebène

Wiederholung eines Gesprächs vom Dezember 2021.

Sendung: hr2-kultur, "Doppelkopf", 20.12.2022, 12:05 Uhr.