Audio "Kleine Verletzungen können große Folgen haben"
Die vielen Konflikte der Gegenwart führen uns tagtäglich vor Augen, wie verletzlich unser Leben und unsere Welt ist. Trotz aller Planung und Kontrolle können wir jederzeit mit Übeln konfrontiert werden, die uns aus den gewohnten Bahnen werfen. Das ist bedrohlich, denn wer sich verletzlich zeigt, wird angreifbar. Dabei macht es kaum einen Unterschied, ob die Verluste und Verwundungen äußerlicher Natur sind oder innerlicher. Autonomie ist uns in einer Zeit der Selbstoptimierung eigentlich grundsätzlich lieber. Dabei ist die menschliche Anlage der Verletzlichkeit, das Angewiesensein aufeinander ein wesentliches Element menschlicher Existenz.
Der Freiburger Arzt und Philosoph Giovanni Maio plädiert dafür, Verletzlichkeit nicht zuerst als Bedrohung verstehen. Denn der Mensch ist sozial verfasst, und erst im Miteinander entsteht Handlungsfähigkeit. Und die Vorstellung, dass sich (mein und dein) Leben gänzlich schützen ließe, ist nurmehr eine Allmachtsfantasie. An verschiedenen Sachverhalten dekliniert Giovanni Maio in seinem Buch "Ethik der Verletzlichkeit" (Herder) durch, welche Rolle die Verletzlichkeit für unser Selbstverständnis und für unser Miteinander spielt und wo der Begriff Vulnerabilität in der Medizin problematisch ist.
Dabei zeigt sich, dass das vorherrschende individualistische Menschenbild der Unabhängigkeit und Nicht-Angewiesenheit eine Illusion ist. Das Bewusstsein der Verletzlichkeit befähigt zur Sensibilität und ist ein Aufruf zur Verantwortungsübernahme. Letztlich ist die Verletzlichkeit etwas, was alle Menschen miteinander verbindet. Dabei ist nicht nur der Mensch verletzlich, sondern auch das Tier und die gesamte Natur. Verletzlichkeit leugnen wäre insofern "philosophischer Selbstmord".
Sendung: hr2-kultur, "Am Nachmittag", 12.06.2024, 17:10 Uhr