Mit schweren Augen wache ich auf. „Aufstehen, mein Junge, es ist Zeit für die Jagd“, höre ich meinen Vater sagen. Er steht vor mir in unserem Bau. Meine elf Geschwister toben schon wild herum. Langsam erhebe ich mich aus meiner Schlafposition. Da kommt auch schon meine Mutter und leckt mein schneeweißes Fell sauber. „Jetzt geh mit deinem Vater auf die Jagd, Balu. Du hast noch viel als Polarfuchs zu lernen“, sagt sie, nachdem ich sauber bin. Heute ist ein aufregender Tag für mich. Ich darf das erste Mal jagen. Freudig tapse ich meinem Vater hinterher, der aus unserem Bau raus in den kalten Schnee geht. Wir sind in Alaska, wo es gerade Minus 43 Grad hat. Aber diese Kälte macht uns Polarfüchsen nichts aus, da wir ein sehr dickes Fell haben. Ich schaue in die Ferne, wo ich nur Schnee und Berge erblicke. Die Sonne scheint auf die dicke weiße Ebene und lässt den Schnee glitzern. Weit und breit ist keine Tierseele zu sehen. „Wo bekommen wir jetzt unser Essen her?“, frage ich meinen Vater nachdenklich. „Unsere Beute ist nicht immer auf den ersten Blick sichtbar. Wir jagen nicht mit unseren Augen, sondern mit unseren Ohren. Als Polarfuchs hast du ein super Gehör und kannst jedes Geräusch hören, auch unter dem Schnee. Und dort befindet sich meistens unser Fressen, denn die Bergmäuse haben ihren Bau unter dem Schnee. Wenn du ganz leise bist und dich konzentrierst, hast du vielleicht Glück und hörst die Bewegungen der Mäuse.“ Konzentriert fokussiere ich mich auf mein Gehör und den Schnee. Da! Ein Geräusch. Elf Meter weiter links von uns und circa einen Meter tief im Schnee. „Ich höre etwas!“, teile ich meinem Vater aufgeregt mit. „Sehr gut!“, antwortet der mir. „Jetzt kommt es zur richtigen Jagd. Es soll wie ein Überraschungseffekt für unsere Beute sein. Du brauchst Schwung und Kraft, um tief in den Schnee zu kommen. Ich zeige dir, wie das geht.“ Mein Vater macht sich breit. Dann federt er sich mit einer schnellen Bewegung mit den Hinterbeinen vom Boden ab und springt fast einen Meter in die Luft. Dort macht er seinen Rücken krumm und schießt anschließend mit der Schnauze nach vorne in den Schnee. Jetzt steckt er mit seinem halben Körper im weißen Boden. Ein paar Sekunden später hält er eine braune Bergmaus zwischen seinen Zähnen. Begeistert renne ich um meinen Vater herum. „Das ist natürlich eine Sache der Übung, aber dafür sind wir hier. Du bist dran“, spricht mein Vater. Eifrig mach ich mich wie mein Vater am Anfang breit. Ich versuche mich mit meinen Hinterbeinen vom Boden in die Luft zu katapultieren. Doch es funktioniert nicht so, wie ich es wollte. In der Luft verliere ich mein Gleichgewicht, ich zappele nervös herum, sodass sich mein Körper überschlägt und ich mit meinem Hintern zuerst in den tiefen Schnee krache. Nur noch meine kleine schwarze Nase schaut aus dem Schnee heraus. Ich spüre, wie mein Vater mich packt und rauszieht. „Ich kann das nicht und ich will es auch nicht können. Ich möchte einfach nach Hause.“ Deprimiert und enttäuscht blicke ich runter auf den Schnee. Mein Vater schaut mich schief an. Langsam läuft er auf mich zu und bleibt still vor mir stehen. Ich versuche ihn nicht anzuschauen, da ich Angst habe Ärger von ihm zu bekommen. Doch dann sagt er: „Balu, im Leben wird es immer Dinge geben, die du beim ersten Versuch nicht hinkriegen wirst. Doch das ist kein Grund direkt aufzugeben. Denn so gelangst du nie an dein Ziel“. Langsam schaue ich zu ihm hoch. „Aber woher soll ich wissen, dass ich das schaffe?“, frage ich ihn. „Das weißt du nicht, aber du wirst es auch nie herausfinden, wenn du es nicht weiter versuchst. Jetzt steh auf, mein Junge, und übe weiter. Ich gehe in den Bau zurück. Wenn du wiederkommst, erwarte ich, dass du dich verbessert hast.“ Mein Vater dreht sich um und entfernt sich in Richtung Bau. Ich schaue ihm noch eine Weile hinterher, bis ich ihn nicht mehr sehen kann. Dann rapple ich mich auf. „Balu, du schaffst das, du ziehst das jetzt durch und machst Mama und Papa stolz“, rufe ich mir selbst zu, um mich zu motivieren. Ich mache mich zum Absprung bereit, springe hoch in die Luft, versuche mich krumm zu machen und - krach. Auf dem Rücken gelandet, liege ich im Schnee. „Egal, noch einmal“, sage ich mir, während ich aufstehe. Ich versuche es ein drittes Mal, ein viertes Mal, ein achtes Mal und ein elftes Mal. Aber ich bin immer gescheitert. Doch beim zwölften Mal klappt es endlich. Mit meiner Nase voran stecke ich tief im Schnee. Nur noch die Hälfte meines Körpers ist zu sehen. Dort spüre ich etwas Weiches, Warmes vor meiner Nase. Ich höre ein schnelles Pochen. Direkt reiße ich meinen Mund auf und packe zu. Nachdem ich mich aus dem Schnee rausgebuddelt habe, halte ich zwischen meinen Zähnen eine Maus. Meine erste, lebendige, echte Bergmaus, die ich ohne Hilfe selbst gefangen habe. Glücklich mache ich einen kleinen Luftsprung. Doch dann bleibe ich erschrocken stehen. Ich schaue mich um, aber mir kommt nichts bekannt vor. Ich erblicke nur Schnee, den ich nicht wiedererkenne. Ich habe keine Ahnung, wo ich mich befinde. Durch mein vieles Üben, durch meine Sprünge, habe ich mich immer weiter von zu Hause entfernt. Ich habe mich verirrt. Da stehe ich nun mitten in der Wildnis auf mich allein gestellt. Die Bergmaus kullert mir aus dem Mund und fällt zu Boden. Schnell vergräbt sie sich wieder im Schnee. Aber ich habe gerade andere Gedanken. Wie komme ich nach Hause?! Ich spüre die Angst, die in mir hochkriecht. Die Unsicherheit, die sich verbreitet und die Stille, die in der Umgebung ist. Eine Weile stehe ich einfach nur da und schaue mich um. Doch dann fallen mir die Spuren im Schnee auf, die ich mit meiner Toberei hinterlassen habe. Und da spüre ich die Hoffnung, die sich in meinem Körper breit macht. Ich fange an, den Spuren zu folgen. Ein Lied, welches mir meine Mutter jeden Abend vor dem Einschlafen singt, summe ich vor mir her, damit ich die Stille übertrumpfe. Nach einer Weile muss ich allerdings lauter singen, damit ich mich noch selber höre, denn ein starker Wind überdeckt meine Töne. Ich laufe weiter, aber es wird immer schwieriger. Ich spüre etwas Kaltes auf meiner Nase landen, auf meinem Kopf und auf meinem Rücken. Schnee. Ich blicke zum Himmel hoch, von dem dicke, weiße Flocken rieseln. Sie werden immer dichter und immer mehr. Bald werde ich nichts mehr sehen können. Also laufe ich schneller. Der Wind bläst mir ins Gesicht und trotz meines dicken Fells fange ich an zu frieren. Ich schaue auf meinen Rücken und bemerke, dass sich dort schon eine dicke Schicht Schnee niedergelassen hat. Ich schüttele mich schnell, sodass dieser runterfällt. Dann blicke ich wieder nach vorne und meine Hoffnung verschwindet. Denn der viele Schnee hat meine Spuren überdeckt. Ich versuche mich umzuschauen, aber wie ich es erwartet habe, verdecken die vielen Schneeflocken meine Sicht. Ich weiß nichts mehr. Ich weiß nicht, wo vorne und hinten ist. Ich weiß nicht, wo links und rechts ist. Ich bin verloren. Ich spüre, wie mein Körper anfängt zu zittern und eine Träne über mein Gesicht rollt. Ich will mich in den Schnee fallen lassen. Aber dann bemerke ich, nicht weit von mir, Umrisse von einer Gestalt. Sie blickt mich an, aber ich kann nicht erkennen, was es ist. Sie nähert sich und langsam er- kenne ich immer mehr. Vier weiße Beine, einen stolzen aufrechten Körper, eine lange Schnauze mit gefletschten Zähnen. Darüber blutrote Augen. Ein Polarwolf, der nur noch einen halben Meter von mir entfernt ist. Er schaut mich an und ich ihn. Ich mache mich zur Flucht bereit, aber er ist schneller. Er springt auf mich und versucht mich mit seinen Krallen festzuhalten. Aber ich kann mich losreißen und fange an zu rennen. Ich weiß nicht, wohin ich renne, Hauptsache weg. Panik bricht in mir aus. Ich spüre den Adrenalinstoß in meinem Körper und bin dadurch schneller als sonst. Dennoch werde ich auf Dauer nicht schneller sein als er. Er wird mich fangen und zwischen seinen Zähnen zerquetschen. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich werde sterben. Doch dann erinnere ich mich an die Maus, die mir entwischt ist. Sie hat sich schnell im Schnee vergraben und dort Schutz gesucht. „Balu, du schaffst das!“, schreie ich zu mir. Ich federe mich so schnell, wie ich kann, mit meinen Hinterbeinen ab, springe einen Meter in die Luft, mache mich krumm und stürze mit meiner Schnauze voran in den Schnee. Meine Hinterbeine, die noch aus dem Schnee herausschauen, ziehe ich an meinen Oberkörper, so dass nichts mehr von mir zu sehen ist. Ich bin still. Alles ist still. Ich lausche nach Geräuschen. Da! Schritte. Genau über mir. Ich halte den Atem an. Ich kann hören, wie sich der Polarwolf dreht, umschaut und schließlich wütend weggeht. Da liege ich nun mitten im Schnee. Mitten im Nirgendwo. Der Schnee drückt auf mich ein. Ich versuche mich zu befreien. Aber es geht nicht. Es ist so kalt. Ich kann meine Pfoten nicht mehr spüren. Ich habe keine Kraft mehr. Ich will aufgeben. Ich schaffe das nicht. Die Kälte und der Hunger werden mich besiegen. Erschöpft schließe ich meine Augen. Ich versuche noch ein letztes Mal an meine Familie zu denken. An meine elf Geschwister, mit denen ich so viel Unsinn gemacht habe. An meine Mutter, die sich um mich gekümmert hat. Und an meinen Vater, der mir das Jagen beigebracht hat. Und dann höre ich etwas in meinen Gedanken. Ich höre meinen Vater. Ich höre das, was er mir heute Morgen beim Jagen gesagt hat: „Balu, im Leben wird es immer Dinge geben, die du beim ersten Versuch nicht hinkriegen wirst. Doch das ist kein Grund direkt aufzugeben. Denn so gelangst du nie an dein Ziel.“ Und da spüre ich es. Mein Herz, wie es anfängt schneller zu pochen. Der Adrenalinschub, der wieder durch meinen Körper fließt. Mein Körper ist nicht bereit zu sterben. Und ich auch nicht. Ich nehme meine letzte Kraft und drücke mich aus dem Schnee. Mit zitternden Beinen stehe ich auf der Oberfläche. Doch jetzt gibt mein Körper doch auf. Ich falle zu Boden. In den kalten Schnee. Ich spüre, wie der Wind über meinen Körper zieht. Aber nach einer Weile spüre ich noch etwas anderes. Zähne, die mich am Nacken packen und wegtragen. Ich versuche meine Augen zu öffnen, aber ich habe keine Kraft mehr. Dieser Geruch kommt mir bekannt vor. Es ist mein Vater. Er trägt mich ein Weile, bis er mich sanft auf dem Boden ablegt. Ich spüre, wie Wärme in meinen Körper kommt. Langsam öffne ich meine Augen, die durch die Wärme wieder Kraft bekommen haben. Ich bin im Bau. Vor mir meine elf Geschwister. Neben mir meine Mutter und mein Vater, die mich sauber lecken und wärmen. Müde und erschöpft, aber auch erleichtert schlafe ich in den Armen meiner Eltern ein mit dem Gedanken, wieder zu Hause zu sein.