Orcas, die Top-Prädatoren der Meere. Ihr lateinischer Name Orcinus Orca ist abgeleitet vom römischen Gott Orcus, dem Gott der Unterwelt und Meister des Todes. Eine direkte Referenz zu ihrem Jagdverhalten, so jagen sie beispielsweise weiße Haie, stoßen ihnen in die Seite, drehen sie auf den Rücken und ertränken sie so. Dann fressen sie nur die Leber des Hais, die sie mit beinahe chirurgischer Präzission entfernen. Sollte ein weißer Hai einer solchen Orca-Attacke doch einmal entkommen, sucht er das Gebiet, in dem diese geschehen ist, über Jahre nicht mehr auf. Die Arktischen Orcas erzeugen Wellen und schwemmen so die Robben von den Eisschollen. Orcas jagen in Familienverbänden von bis zu 50 Tieren und entwickeln regelmäßig neue Jagdstrategien. Diese Tiere werden oft vermenschlicht, ihr Verhalten auf das des Menschen übertragen. So werden Orcas gefürchtet und „Killerwale“ genannt, obwohl die Tiere eine hohe soziale Kompetenz besitzen. Zum Beispiel trauern sie um ihre toten Kinder.

Das Motorboot schlug auf die Wellen, Gischt spritzte hervor und der daraus resultierende Sprühnebel traf die Besatzung. Müde schlürfte Jude ihren heißen Kaffee aus der Thermoskanne, das Gebräu sollte ihr um 5:00 Uhr morgens wenigstens etwas Leben einflößen. Vor etwa 20 Minuten lag sie noch im Bett und hatte sich von ihrem anstrengenden Tag im Whalecenter erholt. Ein Delfin, dem seine Finne durch ein Fischernetz fast abgetrennt worden war, war von zwei Touristen gefunden worden. Der Delfin lag über 10 Stunden auf dem OP-Tisch. Judes Hände schmerzten immer noch. Doch am Ende hatte es trotzdem nichts gebracht. Der Delfin war ihr unter den Händen weggestorben. Wütend hatte sie ihre OP-Kleidung in die nächste Mülltonne gepfeffert und war den Rest ihres Feierabends wortkarg und schlecht gelaunt gewesen. Der Anruf, der sie vor nicht weniger als 20 Minuten erreichte, hatte nicht zu einer Besserung ihrer Laune beigetragen. „Hallo?“, hatte sie müde in ihr Telefon gegähnt. Eigentlich hatte sie schon gewusst, was die Person, die gerade anrief, um so eine Uhrzeit von ihr wollen könnte. „Ja, hallo, hier ist ein Orca gestrandet. Ich schick ihnen die Koordinaten“, hatte die kratzige Stimme eines Mannes ihr geantwortet. „Wie lange liegt das Tier schon dort?“, hatte Jude in einem Zustand zwischen wach und schlafend gefragt. „So knapp zwei Stunden, würde ich schätzen, wir wollten eigentlich erst gucken, ob der Wal es raus schafft.“ Der Mann hatte aufgeregt geklungen. „Vielen Dank für ihren Anruf, wir machen uns sofort auf den Weg“, hatte Jude gemurmelt, während sie sich aus dem Bett gehievt hatte. Sie war aus dem Haus gestolpert und war hinüber zum Haus ihres Arbeitskollegen Noah getrottet. Laut hatte sie gegen die Tür gehämmert. In den vergangenen Monaten hatte sie gelernt, dass dies der effektivste Weg war, um Noah aus dem Bett zu bekommen. Dazu hatte sie laut seinen Namen geschrien, immer und immer wieder. Gerade als sie mit dem Bein ausgeholt hatte, um gegen die Tür zu treten, hatte sich die Tür geöffnet. „Verdammt Jude, ich bin ja schon wach“, hatte Noah mit verstrubeltem Haar gemurmelt. Müde waren die beiden kurz darauf mit einer Tasse Kaffee in der Hand zum Motorboot getrottet.

Jude gähnte noch einmal und wusste: Gleich würden sie da sein. Gleich würden mindestens vier Stunden Arbeit auf sie zukommen. Noch einmal atmete sie die salzige Seeluft ein, die sie so sehr liebte. Noah stoppte das Motorboot nahe der Sandbank und es dümpelte auf den seichten Wellen. Jude hob den Blick, die Szene, die sich vor ihren Augen abspielte, war furchtbar. Es waren gleich zwei Orcas, ein Kalb und seine Mutter. Das Orca-Weibchen lag auf der Sandbank und um sie herum schwamm das verängstigte Kalb. Die Mutter klickte und erzeugte Töne, um ihre Familie, die nicht weit weg sein konnte, zu informieren. „Scheiße!“, fluchte Judes Kollege Noah laut. „Wir müssen verdammt vorsichtig sein“, sagte sie, während sie ihre Erste-Hilfe-Tasche schnappte. „Warten wir erst mal fünf Minuten, bevor wir aussteigen“, beharrte Noah. Jude nickte zustimmend und begann damit, sich auf die in fünf Minuten folgende Situation vorzubereiten. Sie klaubte die Eimer hervor, zog sich ein dreckiges T-Shirt über, sowie eine wasserdichte Latzhose. Der Wal rief immer noch.

„Ich gehe jetzt zu ihr!“, meinte Jude und gerade als Noah den Mund aufmachte, um sich zu beschweren, schwang sie sich zusammen mit ihrer Tasche über die Erhöhung am Motorboot. Mit einem Platschen landete sie im Wasser. Majestätisch, diese schwarz-weißen Flecken, die beeindruckend großen Flossen und die wunderschönen schwarzen Augen und obwohl sie die Tiere schon viele Male gesehen hatte, hörte sie nicht auf, diese besonders zu finden. Sie fragte sich, wann dies jemals aufhören würde. Nicht, dass sie das wollen würde. Das Platschen hinter sich, das ihr bestätigte, dass Noah ihr hinterhergekommen war, vernahm sie kaum. Vorsichtig näherte sie sich dem Orca, denn sie wusste, dass dieses riesige Tier mit einem Schlag seiner Schwanzflosse ihre Existenz auslöschen könnte. Doch das Tier wirkte ruhig, als würde es verstehen, dass sie nur helfen wollte. Jetzt suchte Jude den Orca nach Verletzungen ab, erleichtert atmete sie aus. Mehr als ein paar Kratzer hatte er nicht davongetragen. Sie kramte in ihrer Tasche. Noah hatte sich schon oft beschwert, wie unordentlich die Tasche doch war und dass ihre Tasche ein perfekter Gegensatz zu ihrer Wohnung wäre. Doch so ordentlich, wie ihr Zuhause, so unordentlich war ihre Tasche eine perfekte Repräsentation ihres Lebens. Ihre Wohnung war ordentlich, weil sie dort nur schlief und Kaffee kochte. Manche Kisten waren seit dem Umzug nicht einmal ausgepackt und standen seit einem Jahr in ihrem Schrank. Seit sie in Neuseeland wohnte, hatte sie selten die Möglichkeit gehabt, irgendetwas zu machen, was auch nur annähernd mit Freizeitaktivitäten zu tun hatte. Mittlerweile zählte sie Einkaufen zu einer dieser Gelgenheiten. Sie hatte wenig Zeit für sich, doch das störte sie nur manchmal. Sie liebte und lebte für ihren Job.

„Das Weibchen dürfte ungefähr 17 sein, das Kalb vielleicht eins, so klein wie es ist“, rief Noah ihr zu, während er ebenfalls um das Weibchen herumlief. Sie kramte immer noch in ihrer Tasche und ihre Finger schlossen sich um die Jodsalbe. Sie zog auch noch einen kleinen Tupfer hervor und näherte sich dann vorsichtig dem Orca, der etwas ängstlich aussah. „Ruhig, meine Kleine“, sprach Jude beruhigend auf das Tier ein und legte dann vorsichtig ihre Hand auf die Seite des Orcas. Dabei tupfte sie etwas von der gelblichen Flüssigkeit auf den Schwamm. Langsam strich sie damit über die Wunden des Orcas, dieser schien dies nicht einmal zu spüren. Noah begann damit, einen Wassereimer zu füllen und übergoss das Tier großflächig mit Wasser. Der Orca schloss sein Blasloch, um zu verhindern, dass Wasser hineingelangte. Das Tier hatte Glück, dachte Jude, denn es war 6:00 Uhr im Hochsommer, es war zwar warm, aber wäre die Ebbe später gekommen, hätte der Orca ein großes Problem gehabt. Er wäre ausgetrocknet. Um dies zu verhindern, übergossen Noah und Jude den Orca weiter. Das Kalb schwamm immer noch um die Kuh herum, die nun mit dem Kalb durch Klicken und Prusten kommunizierte.

Judes Arme brannten, sie hatte ihr T-Shirt hochgezogen, und Noah trug seines überhaupt nicht mehr. Sie machte einen Knoten in das Shirt, atmete noch einmal kurz durch, wischte sich den Schweiß von der Stirn und füllte erneut ein Wassereimer. Langsam machte sich der steigende Wasserspiegel bemerkbar. Die beiden Wale wurden unruhig. „Komm aufs Boot“, rief Noah. Jude lief zum Boot und kletterte ächzend hinein. Während Jude einen Schluck trank, wurde der Orca sehr unruhig, schlug mit der Flosse und wand sich hin und her, um von der Sandbank zu kommen. Dann sah man, wie die Wal-Kuh ihre ganze Kraft aufbrachte. Mit einem letzten Schlag ihrer Flosse ließ die Sandbank ihre Gefangene los. Diese schwamm eilig zu ihrem Kind. Die beiden waren nun glücklich wiedervereint. Während sie wieder auftauchte, blies die Kuh in die Luft. Dabei entstand ein Geräusch, welches für Jude das schönste war, was sie je gehört hatte. Das Geräusch war unglaublich beruhigend und trieb Jude Tränen in die Augen. Die Wale sahen so friedlich aus. Noch einmal blies der Wal und der Sprühnebel traf Jude und Noah. Sie lachte laut und wischt sich eine Träne aus dem linken Auge. Langsam wendete Noah das Boot und sie fuhren in Richtung ihres Hauses. Jude atmet erleichtert aus. Dies waren die schönsten Momente an ihrem Job und sie würde dies für nichts auf der Welt eintauschen.