„Guck mal da!“ ruft ein kleines Kind. Daran bin ich natürlich schon längst gewöhnt. Tag für Tag kommen die Leute in diesen alten verranzten Park, nur um fünf Minuten am See zu stehen und mir dabei zuzusehen, wie ich vor mich hinvegetiere. Ich frage mich schon seit einer Ewigkeit, wie man so etwas spannend finden kann. Wenigstens gibt es mir die Selbstbestätigung, die ich ganz dringend nötig habe. So, meine Freunde, ist das Leben als Schwan. Der Sinn meines Lebens besteht einzig und allein darin, anmutig auszusehen und ein Vorbild für Amateure wie Ballerinas zu sein, die krampfhaft versuchen mich nachzuäffen. Eigentlich sollte mich das beleidigen, aber leider interessiert mich das ein bisschen zu wenig, um mir darüber wirklich Gedanken machen zu können. Es ist Sonntag. Ein Tag, an dem dieser deprimierende Park für gewöhnlich am vollsten ist. Sonntage sind einerseits ganz nett. Es ist interessant zu beobachten, welche Leute sich diesmal darum streiten, wer denn jetzt auf dieser dreckigen Bank sitzen darf, die genau in Richtung des Sees gerichtet ist. Auf der anderen Seite stressen mich Sonntage. Mehrere Stunden so aussehen zu müssen, als wollte man wirklich auf dieser Erde existieren, wird mit der Zeit nunmal anstrengend. Heute jedoch ist etwas anders. Es stehen nicht wie gewohnt mindestens drei Alman-Familien mit ihren Engelbert-und-Strauß-Hosen vor mir, um mich anzuglotzen. Es sitzen auch keine alten Omis da, die mir Brotkrumen zuwerfen, weil sie denken, ich würde den Mist wirklich anrühren. Es ist niemand da. Wirklich niemand. Keine Menschenseele. Plötzlich höre ich aus der Ferne leise Klänge, die immer näher zu kommen scheinen. Ich erkenne zwar die Melodie nicht, aber sie ist schön. Sie hat etwas Beruhigendes und gleichzeitig Dramatisches. Und sie wird immer lauter. Daran ist nicht zu zweifeln. Ich drehe meinen Kopf mitsamt mei-nem langen Hals und erblicke einen älteren Mann, der auf einem Fahrrad sitzt und gleichzeitig an einer Holzbox kurbelt, die im Träger vor ihm ist. Der Mann wird langsamer und steigt schließlich von dem Fahrrad. Er guckt zu mir rüber. Direkt zu mir. Nicht etwa zu den anderen Schwänen - ich schaue mich um: Die sind nicht mehr da. Noch immer kurbelt der Mann an der hölzernen Box. Doch die Musik nimmt einen Wendung. Sie wird von Note zu Note dramatischer. Und dann plötzlich, verstummt sie. Der Mann hat aufgehört die Kurbel zu betätigen. Nun steht er einfach nur noch da und beobachtet mich. Ich tue es ihm gleich. Er neigt den Kopf zur Seite. Auch das kopiere ich. Ich weiß nicht wirklich, wieso. Ich tue es einfach. Ich schwimme nähert an das Ufer. „Schade…so schade“, murmelt der alte Mann. Ich würde ihn gerne fragen, was denn so schade ist, doch er würde mich natürlich nicht verstehen. Oder? Ich öffne dennoch meinen Schnabel und gebe einen Laut von mir. „So einsam…so, so einsam. So ein einsamer Schwan.“ Fragend neige ich nochmals den Kopf. Doch anstatt es mir gleich zu tun oder noch mehr Worte von sich zu geben, dreht er sich um, steigt wieder auf sein Fahrrad und wirft mir einen letzten Blick zu, bevor er wieder anfängt an der Kurbel zu drehen und wegzufahren. Wieder erklingt die dramatische Musik. Doch diesmal ist sie irgendwie abschließend und nachdenklich. Ich schaue dem Mann hinterher, bis ich ihn nicht mehr sehen kann. Auf einmal spüre ich einen Drang in mir. Einen Drang, den ich noch nie zuvor verspürt habe. Den Drang, die Flügel auszubreiten und wegzufliegen. Weg von diesem versifften Teich. Und weg von diesem verlassenen Park. Genau das tue ich. Ich breite die Flügel aus und fliege weg. Einfach weg.