Eigentlich ist es ein Drama zweier Verlassener: einer Schäferin, die mit der Situation deutlich besser klarkommt, und des ritterlichen Helden, der aufgrund des Liebeskummers dem Wahnsinn verfällt. Und es obliegt interessanterweise dem Zauberer, die Rolle der Vernunft zu übernehmen und alles wieder in Ordnung zu bringen - wenn man denn dran glaubt.

Orlando - Christophe Dumaux
Angelica - Anna Prohaska
Medoro - Anthony Roth Costanzo
Dorinda - Giulia Semenzato
Zoroastro - Florian Boesch

Orchester des Teatro Real
Leitung: Ivor Bolton

(Aufnahme vom 4. November 2023 aus dem Teatro Real)

Ludovico Ariosts inhaltlich wild wucherndes Versepos "Orlando furioso" von 1516 war eine der beliebtesten Quellen für musikdramatische Sujets im Barock und auch noch danach: Lully, Vivaldi, Domenico Scarlatti oder auch Haydn etwa komponierten Orlando-Opern. Händel schrieb seinen "Orlando" 1732, die Uraufführung im Januar 1733 im Londoner "King’s Theatre" wurde zwar vor allem aufgrund der opulenten Ausstattung allseits gelobt, das Stück war aber dann doch nur ein mäßiger Erfolg - der Komponist hatte es zu dieser Zeit schon schwer, mit seinen italienischen Opern noch zu reüssieren und wandte sich denn auch zusehends dem englischsprachigen Oratorium zu.

Gut 200 Jahre verschwand der "Orlando" von den Spielplänen, seit seiner Wiederentdeckung in den 1920er Jahren gilt er zurecht als eine der avanciertesten und besten Händel-Opern überhaupt. In keinem anderen dramatischen Werk des Komponisten gibt es dermaßen viele begleitete und fein ausgearbeitete Rezitative, Ariosi und unterschiedlichste Arienformen. Für die eigentlich als Nebenrolle geplante, dann aber stark aufgewertete Partie der Schäferin Dorinda schrieb Händel einige seiner bezauberndsten pastoral-wehmütigen Musiken, und die große Wahnsinnsszene des Titelhelden ist zwar nicht ohne Vorbild, hat aber in dieser Ausführlichkeit und Drastik - und übrigens auch einer gewissen Komik - vermutlich wenig Vergleichbares im Barock-Repertoire.

In seiner Inszenierung in Madrid im vergangenen November ließ Claus Guth Orlando als traumatisierten Kriegsheimkehrer auftreten, dessen fragile Verfasstheit die Szene von Beginn an überschattet - der Weg in den Wahnsinn ist hier nicht weit. Auf den Zauber-Schnickschnack, der im Original an entscheidenden Stellen immer wieder eine bedeutende Rolle spielt, verzichtet die Aufführung dabei selbstredend vollständig. Vor allem aber sang im Teatro Real ein in jeder Hinsicht exzellentes Solisten-Ensemble, geradezu grandios der Countertenor Christophe Dumeaux in der Titelrolle und die italienische Sopranistin Giulia Semenzato als Dorinda. Und am Pult stand mit Ivor Bolton der Musikdirektor des Hauses - seit 2015 leitet er die königliche Oper in Madrid.

Sendung: hr2-kultur, "Opernbühne", 16.03.2024, 20:04 Uhr.