Ines Geipel

Der Mauerfall ist über 35 Jahre her. Doch der Riss zwischen Ost und West wird nicht kleiner, sondern immer größer. Viele fragen sich: Warum ticken die Menschen im Osten anscheinend so ganz anders als im Westen? Diese Gedanken macht sich auch Ines Geipel. Die Schriftstellerin ist in Dresden aufgewachsen und im Sommer 1989 kurz vor dem Mauerfall aus der DDR geflohen. In Kassel hat sie aus ihrem aktuellen Buch gelesen: "Fabelland – Der Osten, der Westen, der Zorn und das Glück". Darin äußert sie viele spannende Gedanken, vieles macht hoffnungsvoll, ein Buch voller Impulse zum Nachdenken.

Ines Geipel geht auf die Suche, warum zwischen West und Ost immer noch so ein großer Graben klafft, der sogar wieder größer wird.
Sie tut das mit Analysen und Studien, aber auch mit eigenen Erfahrungen und Erinnerungen. Ihr Buch beginnt mit dem Tag des Mauerfalls.
Den hat sie als Bedienung in einer Weinstube in Darmstadt erlebt. Sie war ja – Du hast es gesagt – schon einige Monate vorher über Ungarn in den Westen geflohen. Sie beschreibt den 9. November 1989 als Tag des Glücks. Und mit dem kleinen Wort „endlich“. Und ihre Frage ist: Wie kann es sein, dass aus dem Glück so viel Zorn geworden ist? So dass heute Jugendliche bei Tiktok Clips teilen, in denen sie sagen: Wir wollen die Mauer zurück.

Und findet Ines Geipel eine Antwort darauf?

Keine konkrete. Aber sie gibt viele interessante Denkanstöße. Zum einen beschreibt sie, dass schon kurz nach dem Mauerfall die ersten kritischen Stimmen aufgekommen sind. Damals besonders von intellektueller Seite.
So habe Heiner Müller die Wiedervereinigung als neue Knechtschaft bezeichnet. Und schon im Sommer 1990 gab es das Bild vom gierigen Wessi, der seine Häuser und Grundstücke im Osten zurückfordert und der Ossis, die übertölpelt werden. Ein Bild, dass sich hartnäckig hält. So aber nicht stimme. Viele Ostdeutsche hätten ihr Vermögen verteidigt oder selbst vom Staat wiedererlangt und nur etwa ein Fünftel der Westdeutschen waren erfolgreich mit ihren Anträgen auf Restitution.

Wie lief der Abend ab? Hat sie viel gelesen? Wurde diskutiert?

Ines Geipel hat in den anderthalb Stunden nur drei Textpassagen vorgelesen, jede vielleicht fünf Minuten lang. Ansonsten hat sie sehr viel zum Thema ausgeführt. Irgendwann ist es zu spontanen Fragen aus dem Publikum gekommen, aber insgesamt war es doch mehr ein Monolog als ein Dialog. Auch die Moderatorin des Abends – neben Ines Geipel auf der Bühne – war eher zurückhaltend.

Wie haben die Textauszüge geklungen?

Sehr poetisch. Viele Bilder. Gedankenfetzen. Kein klassisches Sachbuch, obwohl Fabelland für den deutschen Sachbuchpreis nominiert ist. Eher ein persönlicher Essay. Ines Geipel beschreibt zum Beispiel, wie sie 2010 in Berlin aus dem Fenster schaut und merkt, wie sich die Zeiten ändern. Sie packt das in das Bild eines Schwimmers, der in die Mitte eines Gewässers hinausschwimmt und dann auf einmal umdreht. Ein Gleichnis, wie eine Entwicklung sich wieder umkehrt. Gemünzt auf die Wiedervereinigung: der Osten hat sich erst von der SED-Diktatur hin zur Demokratie entwickelt. Und dann ging es mit der Gründung und dem Erstarken von AFD und Pegida wieder zurück.

Wird in Fabelland analysiert, warum das so ist?

Ines Geipel hat eine grundlegende These. Sie sagt: Die Menschen im Osten hatten 1989 über 50 Jahre Diktatur hinter sich – erst die Nazis, dann die DDR. Und das wurde nicht genug aufgearbeitet. Außerdem sei den Menschen in der DDR ihre Gesellschaft als reine Opfergeschichte erzählt worden. Das wirke nach. Dazu macht Ines Geipel noch viele weitere Themenfelder auf, zum Beispiel die Darstellung von Ost und West in den Medien. Die fokussiere sich oft auf Probleme und stelle weniger die Erfolgsgeschichten dar. Dadurch entstehe ein verfälschtes Bild.

Fazit?

Ines Geipel hat gestern viele spannende Gedanken geäußert. Ich habe neue Einsichten gewonnen. Und manches hat mich auch hoffnungsvoll gemacht. Wenn sie zum Beispiel von ihren Lesungen in Ostdeutschland erzählt hat, wo viele Menschen kommen, die sich danach sehen, dass Demokratie, ein gemeinsames Deutschland und Europa gelingen. Sie hat auch viele Stellschrauben genannt, an denen wir ansetzen könnten, um wieder mehr zusammenzurücken: Von der Aufarbeitung der Vergangenheit, über mehr positive Berichterstattung, bis zum konsequenteren Einschreiten gegen Falschinformationen in den sozialen Medien. Ich gebe zu, ihre Ausführungen fand ich um einiges stärker als die gelesenen Texte aus dem Buch. Mir persönlich waren die teilweise zu poetisch überhöht oder manchmal auch zu intellektuell abstrakt. Insgesamt bin ich aber mit vielen Impulsen zum Nachdenken aus der Lesung gegangen.

"Fabelland – Der Osten, der Westen, der Zorn und das Glück"
Ines Geipel, S. Fischer, 26 Euro.

Sendung: hr2-kultur, 9.5.2025, 7:30 Uhr