Das Städel Museum in Frankfurt würdigt bis 14. April 2024 Miron Schmückle mit "Flesh for Fantasy". Nicht bei den Alten Meistern, nicht bei den Modernen in den unteren Gartenhallen, sondern genau dazwischen: dort, wo man normalweise nur durchläuft. Das ist neu - und der kuratierende Direktor Philipp Demandt beweist ein sehr gutes Händchen damit. Denn die zum Teil riesigen Werke des gebürtigen Rumänen zeigen nichts als Blumen, Phantasiegebilde in Aquarell. Hier kommen sie zur Geltung - nahezu hyperrealistisch echt in der Darstellung von Blüten und Knospen, bis hin zu kleinen Details in Staubgefäßen, Samenständen oder Luftwurzeln. Dabei strahlen diese Organismen in rot, blau, purpur, orange oder gelb. Auch in großem Format, das keck von der Decke hängt. Es gibt deutliche Anlehnungen an die Tradition der Blumenmalerei wie man sie bei den Miniaturen von Georg Hoefnagel im 16. Jahrhundert findet, über den Schmückle promoviert hat. Aber natürlich grüßt auch Maria Sybilla Merian von Ferne. Wir sehen kostbare Schmuckstücke, die sehr gut zum Städel passen.
Stefanie Blumenbecker lobt das Städel für den Mut, in diesem Transit-Raum derart hochwertige Kunst zu zeigen||
Es hat 42 Jahre gedauert, bis die Oper Frankfurt nach der Skandal-Inszenierung von Hans Neuenfels "Aida" wieder auf den Spielplan gesetzt hat. Vor allem, dass Neuenfels Aida als Putzfrau zeigte, stieß damals übel auf. In der Neu-Inszenierung von Lydia Steier ist Aida wieder eine Putzfrau - vielleicht eine Reverenz an Neuenfels -, aber heutzutage ist das Publikum Schlimmeres gewohnt. Immerhin ist Aida eine äthiopische Geisel am ägyptischen Hof, und die werden mit niederen Arbeiten beschäftigt. Doch insgesamt überzeugte die Neu-Inszenierung vor allem in der zweiten Hälfte nicht, sodass es zum Schluss nicht nur Bravo-, sondern auch Buhrufe für das Regie-Team gab. Musikalisch war "Aida" jedoch über allen Zweifel erhaben. Und besonderes Lob verdient Aida-Sängerin Guanqun Yu, die trotz einer Verletzung sich nichts anmerken ließ und bis zum Schluss durchhielt.
Meinolf Bunsmann genoss die Musik in der Neu-Inszenierung von "Aida" an der Oper Frankfurt, die Regie dagegen weniger.||
Der Schriftsteller Navid Kermani stellte im Schauspiel Frankfurt sein neues Buch "Das Alphabet bis S" vor. Autofiktion hat es in der Literatur schon immer gegeben, nur der Name dafür ist neu. Kermani hat eine Erzählerin gewählt, um aus seinem eigenen Leben zu erzählen. So kann es passieren, dass die Erzählerin dem Kollegen Rafik Schami begegnet, und man fragt sich schon, woher sie ihn überhaupt kennt, während dass bei Kermani keine Frage wäre. "Das Alphabet bis S" ist kein auf einen Schluss hin durchkomponierter Roman, sondern ein Tagebuch, was Kermani erlaubt, durch die Themen zu mäandern. Er schätzt den Zufall, wie er bei der Lesung betonte. Der Titel kam zustande, weil die Erzählerin sich zu Anfang des Jahres vornimmt, ihre ungelesenen Bücher zu lesen, und immerhin schafft sie es bis zum Buchstaben "S". Auf dem Weg dahin gelingen Kermani manche Einsichten, und vor allem die Reise-Eindrücke aus Städten wie Kairo sind lesenswert.
Mario Scalla verbrachte einen anregenden Abend bei Navid Kermanis Lesung aus "Das Alphabet bis S"||
Wer sich bei diesem unwirschen Wetter "Reif für die Insel" fühlt, für den ist der neue Film von Marc Fitoussi gerade das richtige. Als Jugendliche waren Blandine (Olivia Côte) und Magalie (Laure Calamy) unzertrennlich, doch irgendwann verloren sie sich aus den Augen. 30 Jahre später treffen sie sich wieder und beschließen, einen Traum von damals zu verwirklichen: eine Reise auf die Kykladen. Allerdings müssen sie feststellen, dass ihre Vorstellungen vom perfekten Urlaub sich auseinander entwickelt haben. Bevor ihr Urlaub jedoch scheitert, treffen sie Bijou (Kristin Scott Thomas), die trotz einer Brustkrebs-Diagnose Lebensfreude versprüht. Ein Film nicht nur für Liebhaber der griechischen Inseln.
Für Ulrich Sonnenschein bringt der Film "Reif für die Insel" Lebensfreude in die Trübnis||
Das ist nicht einfach eine Lesung: Das Licht geht aus, es ist ganz dunkel – und dann steht er auf einmal angeleuchtet vorne an der Bühne und fragt: "Mögen sie Regen?" Ferdinand von Schirach als bürgerliche Erscheinung, Maßanzug, sehr gewählte Ausdrucksform, formvollendet. Er liest nicht, sondern trägt den Text des Buches vor, ein paar spontane Exkurse inklusive. Niemand sollte sich gelangweilt haben, denn er nimmt sein Publikum gelegentlich mit, klagt über Raucherfeinde, zündet sich eine an – Applaus. Applaus auch, wenn er über die Unausweichlichkeit von Ambivalenz spricht – was ist schon eindeutig im Leben? Oder in der Literatur? Alles munter witzig dahererzählt, stets mit Haltung, etwa zum Antisemitismus. Ferdinand von Schirach versteht es geschickt, in Kulturanekdoten Nachdenkliches und Unterhaltendes zu verbinden. Das kommt sehr gut an, ob Tod oder Ehekrach, der tödlich ausging – seine Leichtigkeit hilft, auch die schlechte Nachrichten zu verarbeiten.
Mario Scalla bewundert, wie man das Kunststück vollbringt, lange Textpassagen auswendig vorzutragen||
Wutbürger sind ein vieldiskutiertes Phänomen unserer Zeit; die beiden flämischen Autoren Jan Sobrie und Raven Ruëll sind der Meinung, dass es auch das Gegenteil davon gebe: "Wutschweiger". Das Staatstheater Darmstadt hat ihr "Klassenzimmerstück" aufgeführt, das tatsächlich nur knapp eine Schulstunde dauert. Ebeneser ist mit seinen Eltern in einen Wohnblock umgezogen, weil sie sich ihr Häuschen nicht mehr leisten können. Mit seiner Freundin Sammy freut er sich auf den Höhepunkt des Jahres: Skiferien mit der ganzen Klasse. Doch dann können weder er, noch Sammy mitfahren, weil ihre Eltern das Geld nicht haben. Ebeneser und Sammy beschließen, fortan aus Wut zu schweigen, und wie sich herausstellt, ist das eine ganz schön laute Botschaft. Das Staatstheater Darmstadt bietet Schulen an, mit diesem "Klassenzimmerstück" in die Schulen zu kommen.
Ursula May findet "Wutschweiger" gut, gerade weil es auf den pädagogischen Zeigefinger verzichtet.||
The Old Oak ist ein Filmdrama von Ken Loach. Der Film spielt in einem ehemaligen Grubendorf in der Grafschaft Durham im Nordosten Englands und in dem titelgebenden, letzten verbliebenen Pub. Der Film feierte im Mai 2023 bei den Filmfestspielen in Cannes seine Premiere und ist seit gestern in unseren Kinos zu sehen. Weil die Gruben geschlossen werden, verlassen die Menschen das Land. Die Häuser sind hier daher billig und stehen leer, weshalb man in der Bergarbeiterstadt im Jahr 2016 syrische Flüchtlinge unterbringt. Eine von ihnen, die junge Yara, freundet sich mit ihrem Vermieter TJ Ballantyne an, dem Besitzer des "Old Oak", der ihnen seine Räumlichkeit als Refugium zur Verfügung gestellt hat. Gemeinsam versuchen sie, die lokale Gemeinschaft wiederzubeleben, indem sie eine Armenküche einrichten, die Menschen unabhängig von ihrer Herkunft Essen gibt. Das Drehbuch schrieb Paul Laverty, der seit Loachs Film Carla’s Song mit dem Regisseur zusammenarbeitet. Loach kündigte an, "The Old Oak" werde sein letzter Film sein, bevor er sich als Filmemacher zur Ruhe setzt.
Ulrich Sonnenschein hat solch einen Ken Loach noch nie gesehen||
Die Sauna, um die sich der Dokumentarfilm "Smoke Sauna Sisterhood" dreht, steht in Estland, aber sie könnte überall in Nordeuropa stehen. Anders als hierzulande üblich, besuchen im Norden die Geschlechter streng getrennt die Sauna. Dort öffnen sich nicht nur die Poren, sondern auch die Herzen. Die Frauen, die Regisseurin Anna Hints begleitet, sprechen über Schönheit und Familie, aber mit der Zeit kommen auch schwierigere Themen zur Sprache. Da berichtet die eine von ihrem lesbischen Coming-out, die andere von Geburtsschmerzen, die dritte von einer Vergewaltigung und dass das Spießrutenlaufen danach beinahe noch schlimmer war. Trotzdem versichert hr2-Kritiker Ulrich Sonnenschein, dass "Smoke Sauna Sisterhood" nichts Voyeuristisches an sich habe. Der Film wurde beim Sundance-Film-Festival für die beste Regie ausgezeichnet.
Ulrich Sonnenschein beschreibt "Smoke Sauna Sisterhood" als dokumentarisches Gedicht in Bildern.||
Theater für Kinder ist wahrscheinlich das schwerste - ist es nicht gut, dann herrscht Unruhe im Parkett. Im Staatstheater ist es dagegen mucksmäuschenstill, gespannt verfolgen Kinder und Anhang das Geschehen in diesem Musical: Lyman Frank Baums "Zauberer von Oz", vor über 100 Jahren als Wunderwelt ausgedacht, wird in Darmstadt ins Heute gebracht - man dreht kleine Videos und möchte damit viral gehen, der Vater findet das nicht so optimal - eine Alltagssituation, die viele Kinder und Eltern kennen. Und diese Version ist trotzdem phantastisch märchenhaft: Der Blechmann eine wunderbare Blechfrau, die köstlich quietscht und knarzt, die Hexe als Dragqueen mit glitzernden Plateaustiefeln und viel weniger bedrohlich als im Original. Per Heißluftballon mit vielen grünen Luftballons schwebt Doro in die Smaragdstadt, viele Seifenblasen begleiten sie - es folgt eine Stunde Wunderbares. Insgesamt eine bunte und besonders klangvolle Welt, viel Applaus kleiner Hände belohnen Sänger und das Team um Regisseurin Caroline Stolz, Designerin Nina Wronka und Timo Willecke, der komponiert und dirigiert hat.
Susanne Pütz imponierte die Band und ihre Geräusche aus dem Orchestergraben des Staatstheaters||
Das Museum für Moderne Kunst in Frankfurt zeigt eine bedeutende Künstlerin, die über Jahrzehnte von den grossen Museen dieser Welt schlicht vergessen oder ignoriert wurde. Die US-amerikanisch-mexikanischen Malerin und Bildhauerin Elisabeth Catlett hatte ein, sagen wir mal, angespanntes Verhältnis zu ihrem Geburtsland USA, wo sie als schwarze Frau mit Haltung schikaniert und verfolgt wurde. Jetzt sehen wir Zeichnungen, Lithografien, Holz- und Linoldrucke, sehr viele Skulpturen. Catlett hat in ihrer 70 jährigen Schaffenzeit ein riesiges Werk hinterlassen, das von ihrer Person und ihrem "Schicksal" nicht zu trennen ist: Vor allem Porträts von Frauen, von Müttern mit Kindern, Skulturen von Frauen, die raumfüllend dastehen, die ihre Fäuste in die Luft recken, aufrecht mit beiden Beinen auf dem Boden - und stolz, im Kampf, gegen Unterdrückung. Höchste Zeit, dass wir Elizabeth Catlett würdigen und ihr den Platz einräumen, der ihr gebührt. In Frankfurt lernt man ihr Werk gut, sie als Mensch leider zu wenig kennen, noch nicht einmal ein Foto von ihr ist zu finden, schade.
"Momo" von Michael Ende ist ein Klassiker der Kinderbuchliteratur. Das Schauspiel Frankfurt beweist, dass die Geschichte auch auf der Bühne funktioniert. Momo, die in Ruinen am Rande der Stadt lebt, hat eine Gabe, für die sie alle lieben: Sie kann zuhören. Doch plötzlich hören die Menschen auf, sie zu besuchen; die grauen Herren von der Zeitsparkasse sind aufgetaucht, die den Menschen einreden, sie müssten Zeit sparen. Mit Hilfe der Schildkröte Kassiopeia bringt Momo den Menschen ihre Zeit zurück. Es gibt viel zu bestaunen in der Inszenierung, die so dicht gepackt ist, dass manche Kinder Schwierigkeiten haben werden zu folgen. Von daher ist es ratsam, vor dem Besuch der Vorstellung das Buch mit den Kindern zu lesen.
Bastian Korff hat Michael Endes "Momo" schon als Kind mit der Taschenlampe im Bett gelesen.||
In dem Schauspiel "Grimm: Ein deutsches Märchen" am Staatstheater Kassel sitzt die Familie Grimm um einen Tisch herum und erzählt einander Märchen, schlüpft aber auch in Märchenrollen. Die brutale Seite, die manche Grimmschen Märchen an sich haben, wird dabei nicht ausgespart: In der Kasseler Rotkäppchen-Version frisst der Wolf die Oma. In der historischen Wirklichkeit saßen Jacob und Wihelm Grimm in Kassel gleich um die Ecke vom Staatstheater und sammelten ihre Märchen. Die Zuschauer erfahren auch viel über das Zeitgeschehen. Vor gut 200 Jahren war Napoleon mit seiner Armee in den deutschen Ländern eingefallen und die Arbeit am Wörterbuch diente auch der Selbstbehauptung der deutschen Sprache. Nur manchmal rutscht die Inszenierung ins Slapstick-hafte ab, wenn etwa Ludwig Emil Grimm einen Hund gibt. Dem Publikum - das auffallend jung war - hat's gefallen.
Jens Wellhöner erlebte mit "Grimm: Ein deutsches Märchen" einen bildergewaltigen Theaterabend am Staatstheater Kassel||
Das Hessische Landesmuseum Darmstadt stapelt tief, wenn es seine neue Ausstellung schlicht "Grünzeug" nennt. Was sich in der Ausstellung öffnet, ist ein Lustgarten, in dem die Kuratoren ihrer Fantasie freien Lauf gelassen haben. Die Ausstellung beginnt mit Pflanzendarstellungen aus dem Mittelalter, in dem es noch weniger um die Pflanzen an sich ging, sondern um die Tatsache, dass im Paradiesgarten nun einmal Pflanzen wuchsen. Aber auch ein so abstruses Bild wie das Jesuskind auf einem Kohlkopf ist dabei. Später interessieren sich die Künstler aber für die Pflanzen selbst, wenn etwa die Nürnberger Malerin Barbara Regina Dietzsch bereits im 18. Jahrhundert Rüben und andere Wurzelgemüse in leuchtenden Deckfarben malt. Dazwischen sitzen John Lennon und Yoko Ono im Bett und halten Tulpen in die Kamera. Und auch die Wahlplakate der Grünen kommen nicht ohne Blumen aus. Die 125 Werke auf Papier bieten einen wilden Ritt durch die Pflanzendarstellung in der Kunstgeschichte, doch der Ausstellung gelingt es, immer die Balance zu halten.
Für Stefanie Blumenbecker ist "Grünzeug" im Hessischen Landesmuseum Darmstadt gerade die richtige Ausstellung für eine trüben Novembertag.||
Wir sind im Sommer 1981, Cáit ist neun Jahre alt, sie hat drei Schwestern, die Mutter ist schon wieder schwanger, die Familie lebt auf dem Land, ist völlig aus den Fugen und arm und wenn man so mit dem reinen Überleben beschäftigt ist, ist kein Platz mehr für Emotionen und Empathie. Jetzt kommt das nächste Baby und sie soll den Sommer auch noch bei entfernten Verwandten auf einem Bauernhof verbringen, die sie nicht kennt und die sie nicht kennen. Sean und Eibhlin. - Es sind große Bilder und große Stimmungen und es ist vor allem eine sehr intensive Spannung zwischen Traurigkeit, die aus der Vergangenheit kommt, und Freude, die in einer neuen Gegenwart entsteht. Das Ende ist ganz unvorhersehbar, aber sehr stimmig und es gibt Raum für Hoffnung. Kein Happy End, aber sowas gibt’s im Kino ja gern mal, wenn man nicht mehr weiter weiß. Und das würde zu "The quiet girl" so gar nicht passen.
Daniella Baumeister findet erstaunlich, wie sicher Regisseur Com Bairead Zwischentöne trifft||
Es ist ein tolles Quartett, das sich mit einem beeindruckenden Konzert vorgestellt hat – erstaunlich, dass es in Frankfurt schon wieder ein Streichquartett gibt, das solch Können und Format hat. Das Aris Quartett und das Eliot Quartett, bereits früher in Residenz im Holzhausenschlösschen, haben sich international einen Namen gemacht – in diese Reihe wird jetzt auch das Malion Quartett gestellt – zurecht. Der langsame Satz von Anton Webern, das 2. Streichquartett von Felix Mendelssohn Bartholdy, komponiert im Alter von gerade einmal 20 Jahren, dann Beethovens op. 59 Nr. 1 - Wiener Klassik oder doch schon Romantik? Alles in allem ein wirklich anspruchsvolles Programm, das die vier sehr differenziert, kontrast- und farbenreich präsentiert haben, das Spektrum reicht von satten, fast schon stampfenden Akkorden bei Beethoven bis zur flirrenden Leichtigkeit bei Mendelssohn – alles sehr fein ausgearbeitet und homogen im Zusammenspiel. Anspruchsvoll übrigens auch für das Publikum, das dem Malion Quartett konzentriert gefolgt ist – das war auch gefordert, denn die Konzerte sind ohne Pause konzipiert.
Martin Grunenberg empfiehlt den Besuch eines der Konzerte im Frankfurter Holzhausenschlösschen||
Am Sonntag gastierte das NDR-Elbphilharmonie-Orchester unter Alan Gilbert in der Alten Oper Frankfurt. Allein schon das Violinkonzert von Tschaikowsky sowie die 5. Sinfonie von Gustav Mahler erfordern zweieinhalb Stunden Zeit. Für Unermüdliche bot die Alte Oper aber auch noch ein Programm namens "Musik plus Geschichte" an. Um 16 Uhr ging es los im Historischen Museum mit einer Einführung, wie in Frankfurt das Musikleben um 1880 aussah. Danach folgte um 19 Uhr das Konzert in der Alten Oper mit Starsolist Joshua Bell an der Geige. Der heute 55-jährige erzählte, dass er bereits mit knapp 18 Jahren zum ersten Mal auf der Bühne der Alten Oper gestanden habe. Begleitet wurde Bell vom NDR-Elbphilharmonie-Orchester unter Alan Gilbert, der selbst auch Geiger war, von daher das Orchester mit Gespür den Tempowechseln von Bell anpasste. Nach sechs Stunden Musikgeschichte plus Konzert beendete unser Rezensent beglückt und angenehm ermüdet einen mit Kultur vollgestopften Sonntag.
Meinolf Bunsmann genoss den Geiger Joshua Bell mit dem NDR-Elbphilharmonie-Orchester in der Alten Oper Frankfurt||
1957 in Ghana geboren gilt John Akomfrah in Großbritannien als einer der bedeutendsten Video- und Filmschaffenden, auf der Biennale in Venedig darf er 2024 den britischen Pavillon bespielen. Davor ist er Gast in der Kunsthalle Schirn mit der Schau "A Space of Empathy": Was ihn seit Jahrzehnten umtreibt, ist der nicht nur britische Kolonialismus (und was er angerichtet hat) und was die westliche Ausbeutungsmaschine anderen Menschen, der Natur, diesem Planeten antut. Er hält Empathie nicht für ein Modewort, sondern will für dieses verstehende Nachempfinden ein Gefühl vermitteln. Das tut er, indem er dokumentarische Bilder zeigt, die sich selbst kommentieren und ergänzen. Das kann harmonisch sein oder dissonant – so wie Natur romantisch schön sein kann, aber auch wild bewegt, gefährlich, als Vulkanausbruch und Wirbelsturm. Akomfrah zeigt den Gegensatz von friedlicher Natur und brutalem Menschen, in mitunter grausige Videos: Riesenharpunen werden in Wale gejagt - Fischtrawler als Kriegsschiffe gegen intelligente Säugetiere. Man verlässt die Schau reich an Eindrücken, obwohl kein hektischer, schneller Schnitt anstrengt, bewirken die langen intensiven Einstellungen, das man die Bilder eine Weile auf sich wirken lassen kann – in der berechtigten Erwartung, dass sie auf Langzeitwirkung zielen.
Mario Scalla empfiehlt, sich ausführlich Zeit zu nehmen und/oder das Doppelticket zu nutzen||
Die Aktion, die der Film "Miss Holocaust Survivor" dokumentiert, hat viel Kritik auf sich gezogen: In einem Altersheim mit Überlebenden der Judenvernichtung wird ein Schönheitswettbewerb abgehalten. Das sei doch makaber, war die Reaktion vieler Menschen, die davon hörten. Ganz anders die Reaktion der beteiligten vierzehn Frauen, die mit Eifer dabei waren. Sie waren durchweg sehr jung, als sie teilweise mehrere Konzentrationslager durchlitten. Den Schönheitswettbewerb erleben sie als Feier ihres Überlebens - es ist der einzige Schönheitswettbewerb der Welt, bei dem es auf innere statt auf äußere Schönheit ankommt.
Ulrich Sonnenschein erzählt von den starken Frauen im Dokumentarfilm "Miss Holocaust Survivor", die die Judenvernichtung überlebt haben.||
Als "Zeitfenster" zeigt der Bildhauer Stephan Balkenhol im Museum Wiesbaden 45 seiner typischen Holz-Skulpturen - nicht vor weißen Wänden in einem modernen Umfeld, sondern inmitten von mittelalterlicher Kunst, Renaissance-Malerei und Landschaften. Er setzt sie so ein, dass etwas Neues entsteht, eine Spannungssituation zwischen Bildhauerei und Malerei. Ein Wagnis? Schnell hätten die hölzernen Figuren auch abgestellt wirken können, belanglos oder fremd. Stattdessen aber entsteht Magie: Balkenhols Kunstfamilie, die er im Laufe der Jahre geschaffen, ist zu Besuch im Museum. Da steht eine Frau im grünen Mantel vor einem alten Mariengemälde und man entdeckt die Farbe in den Gewändern auf den Bildern dahinter: Die Heiligenfigur erscheint nicht mehr so fremd. Die Skulpturen sind so gestellt, dass sie die Gemälde zu betrachten scheinen, der eigentliche Besucher – also wir alle – scheinen sich in ihnen regelrecht zu spiegeln. Als würden sie uns verdoppeln. Sie verlebendigen die Räume. Man hat Gesellschaft - und entdeckt durch diese Ausstellung die Alten Meister im Museum Wiesbaden ganz neu.
Stefanie Blumenbecker bewundert den Mut der Museumsleitung, dem Bildhauer alle Freiheiten gegeben zu haben||
Ein Klassiker, der Nähe zum Romantikmuseum und Goethehaus verpflichtet: Der Briefroman "Werther" in einer dramatisierten Version, oder wie es heißt: Nach Johann Wolfgang Goethe: Das Schöne an diesem Frühwerk ist, dass es jede Generation es neu für sich entdecken kann: Leiden an der Enge der Gesellschaft, jugendliches Unwohlsein, Liebesschmerz – zeitlose Zutaten für immer neue Aktualisierungen. In Frankfurt kommen Marlene-Sophie Haagen und Sam Michelson in der Regie von Sarah Kortmann lässig wie cool in Schwarzer und Schlabberlook, haben keine klaren Rollenzuweisungen, also sind Lotte und Werther im Heute, unangepasst, vielleicht Aktivisten, politische Einzelgänger. Das überdimensionale Herz beherrscht das Bühnenbild, die zwei Schauspieler öffnen den Raum, spielen mit dem Publikum – eine lebendige, offene Inszenierung, deren hybrider Text viel Goethe-Sound enthält - und den Rat wie von einer Paartherapeutin von heute: "Befreie dich von dieser Liebe, dieser Anhänglichkeit!" Liebeskummer ist also therapierbar - aber die Gesellschaft?
Mario Scalla hat die Premiere auf der Frankfurter Volksbühne als zeitgemäß erlebt||