Die musikalische Avantgarde der Nachkriegszeit, so wird’s bis heute gerne berichtet, hatte mit der Tradition wenig bis gar nichts zu tun. Die Musik Dieter Schnebels lehrt die Geschichte etwas anders: eben den überaus produktiven Bezug zur musikalischen Historie.

Gerade der damals junge Komponist Dieter Schnebel, zweifellos ein Schönbergianer und Webernianer, benannte Mitte der 1950er Jahre einige der Sätze seines 1. Streichquartetts, das nach avantgardesker Manier nicht so heißen durfte, sondern auf "Stücke" getauft wurde, ganz traditionsverbunden als "Walzer", "Marsch" und "Finale". Zu dieser Zeit war Schnebel 25 Jahre alt und in den Endzügen seiner Ausbildung zum Musikologen und evangelischen Pfarrer. Seine "Stücke" sind mit einer Dauer von etwa zweieinhalb Minuten sehr radikal, prägnant, konzis - ein erster Abschluss der Streichquartett-Literatur, aber auch der Auftakt zu einem neuen Repertoire der kammermusikalischen Königsgattung.

Drei verschiedene Interpretationen der "Stücke" erklingen in diesem hr2-Konzertsaal. Dieter Schnebel, der am 20. Mai 2018 in Berlin im Alter von 88 Jahren gestorben ist, hat dann ein halbes Jahrhundert gewartet bis zu einem nächsten Streichquartett. Es heißt "Im Raum" und dauert 40 Minuten. Es wird zudem begleitet und gefolgt von einem dritten Quartett namens "Erinnern - Wiederholen - Durcharbeiten". Das war eines der gedanklichen Gebäude von Dieter Schnebel, das er durch intensive Beschäftigung mit der Psychoanalyse und eigene Therapiebesuche kennengelernt hatte.

Sendung: hr2-kultur, "Konzertsaal", 12.01.2023, 20:04 Uhr.