"Uwaga" heißt "Achtung" auf Polnisch, und "Uwaga!"-Schilder stehen in Polen an jeder Straßenbaustelle. Das war die rettende Idee für vier junge Musiker, die sich 2007 nicht auf einen Namen für ihr Quartett einigen konnten. Mit dabei sind ein Violinist, ein Akkordeonist, ein Geiger und ein Bassist. Zu ihren Konzerten holen sie sich weitere Musiker, für ein Konzert am Mittwoch in der Alten Oper Frankfurt unter anderen die israelische Pianistin Roglit Ishay und den ägyptischen Oud-Spieler Basem Darwisch. In wechselnden Besetzungen bieten sie ein Programm, das schwer zu charakterisieren ist, weil alles dabei ist - von Erik Satie bis Funk. Darunter sind auch eigene Werke, etwa wenn Roglit Ishay sich einen chassidischen Klarinettisten auf dem Rücken eines Kamels vorstellt. Und tatsächlich meint man das dann auch zu hören!
Meinolf Bunsmann erlebte mit "Uwaga!" einen wilden Ritt durch Klassik, Rock und Pop||
"Was vom Ende bleibt" heißt eine Ausstellung mit Fotos von Tina Ruisinger im Kasseler Museum für Sepulkralkultur. Dieses Museum beschäftigt sich mit dem Thema Bestattung, was für viele Menschen bereits ein Tabu-Thema ist. Tina Ruisinger dringt noch weiter in dieses Tabu ein, denn sie hat die Asche fotografiert, die nach der Kremation einer Leiche übrig bleibt. Wer einen unstrukturierten Aschehaufen erwartet, wird überrascht sein, denn da ragen zum Beispiel die Reste der Implantate aus der Asche, die dem Verstorbenen das Leben erleichtert haben. Hier wirken sie wie archäologische Funde. Makaber sind diese Fotos nicht, aber gewiss nicht leicht zu konsumieren.
Jens Wellhöner fühlte sich durch die Fotos im Kasseler Museum für Sepulkralkultur an archäologische Funde erinnert.||
Seit über 30 Jahren steht das britische Trio "The Tiger Lillies" für eine schräge Mischung aus Chanson, Zirkusmusik, Vaudeville, Straßenmusik und Punk, ihre Konzeptalben und Theaterproduktionen wie "Shockheaded Peter" sind legendär. Im Frankfurter "Zoom" gaben sie ihre Fassung von Charles Dickens‘ "Christmas Carol" zum Besten - eine wilde Wunderkammer an Instrumenten und Klängen, vor allem tut sich Adrian Stout hervor – singende Säge, Maultrommel, Kontrabass, ja sogar ein elektronisches Teremin kommen zum Einsatz. Das ist einfach wunderbar – dazu gibt es den ganzen Abend über ein unheimliches und effektvolles Licht. Weihnachtsstimmung? Gar nicht – bei Dickens selbst kommt sie durch die Läuterung des geizigen Ekels, bei den Tiger Lillies wird der Finger dagegen sehr ausführlich in die Wunde der Missstände gelegt, da liegt der Fokus aus dem Gossenleben in Armut. Unser Mann im Club hat sich gut unterhalten und großen Spaß an den musikalischen Qualitäten der Drei gehabt - und warnt vor zu frühem Gehen: In der Zugabe holen sie noch mal alles raus!
Bastian Korff hat sich köstlich amüsiert, kritisiert jedoch (geizig wie Scrooge!) den happigen Eintrittspreis||
Beinahe wäre die Aufführung von Donizettis "Der Liebestrank" am Staatstheater Darmstadt geplatzt, denn der Sänger des "Nemorino", der Tenor David Lee, war kurzfristig erkrankt. Für ihn sprang Matteo Roma ein, der sich in nur zwei Tagen in die Inszenierung einarbeitete. Von diesen Begleitumständen war bei der Premiere nichts mehr zu spüren. Regisseurin Geertje Boeden hatte auf der Bühne einen pastellfarbenen Traum bereitet. Zwei neue Rollen tauchen auf: Upupa und Colombina, zwei possierliche Vögel, die heftig miteinander turteln, und den Sängern gelegentlich die Show stehlen. Donizettis Musik ist abwechslungsreich, der Darmstädter Chor spielfreudig; Juliana Zara glänzt als "Adina". Für ihren Kraken-Rock mit Tentakeln gab es sogar einen Extra-Applaus. Eine Inszenierung für alle Liebhaber der leichten Oper und auch für Kinder ab zehn Jahren geeignet.
Meinolf Bunsmann ließ sich in Darmstadt vom Tschingderassa-Bumm in Donizettis "Liebestrank" mitreißen||
"Something rotten" am English Theatre Frankfurt spielt natürlich auf das Shakespeare-Zitat an, etwas sei faul im Staate Dänemark, und das ist genau das Problem, das die Brüder Nick und Nigel Bottom im England der Renaissance-Zeit haben: Wie hält man die eigene Theater-Truppe am Leben, wenn das Publikum nur noch die Stücke von diesem Shakespeare sehen will? Die Bottom-Brüder konsultieren ein Orakel, und das sagt ihnen voraus, dass im Theater der Zukunft geschauspielert, getanzt und gesungen werden wird und das alles gleichzeitig! Die beiden machen sich daran, das Musical zu erfinden. Das English Theatre bietet mit "Something rotten" eine hinreißende Show, die allerdings nur schätzen wird, wer über gediegene Englisch-Kenntnisse und einen soliden Bildungshintergrund zum Verständnis der Shakespeare-Anspielungen verfügt.
Ulrich Sonnenschein empfiehlt "Something rotten" am English Theatre Frankfurt für Englisch-Fort-Fort-Fortgeschrittene||
Es ist noch keine 25 Jahre her und doch schon wieder sowas von Geschichte: Matt Johnson zeichnet in seinem Film "BlackBerry" die Geschichte des Smartphones mit den charakteristischen beerenförmigen Tasten nach, das Anfang des Jahrtausends zum Statussymbol von Managern und Möchtegern-Managern wurde. Eine Gruppe von technischen Überfliegern, die keine Ahnung von Betriebswirtschaft hatte, entwickelte den kleinen schwarzen Kasten, mit dem man nicht nur telefonieren, sondern auch E-Mails, SMS, Tweets absetzen und im Internet surfen konnte. Die Geschichte birgt viel komisches Potenzial, sodass "BlackBerry" keine trockene Dokumentation ist. Und dann kam Steve Jobs mit seinem iPhone, das auf die Tastatur verzichtete. Den Machern des Blackberry fiel darauf keine Antwort ein, was den Untergang der Firma einläutete.
Ulrich Sonnenschein empfiehlt mit "BlackBerry" einen Film über einen kleinen, schwarzen Kasten mit viel komischem Potenzial||
Die Menschen haben sich wohnlich eingerichtet in der Klimakatastrophe. Mit dem Stück "Sonne / Luft" am Schauspiel Frankfurt fährt Elfried Jelinek in ihrer gewohnt gnadenlosen Art dazwischen. Es gelingt ihr, der Klimakatastrophe eine neue Seite abzugewinnen, indem sie keine menschliche Perspektive einnimmt, sondern die Sonne und die Luft auftreten lässt. "Ich bin der Sonnenmann, immerhin besser als der Sensenmann. Ich verbrenne die Länder und hinterlasse nichts für keinen. Geschlecht egal, denn nach uns wird kein Geschlecht mehr kommen." Dass die Zeit der Menschen vorbei geht, darüber freut sich auch die Luft. Diese - aus menschlicher Sicht - eher düsteren Aussichten werden vom Schauspiel-Ensemble munter vorgetragen. Die Klimakatastrophe schmort derweil weiter.
Mario Scalla hat mit "Sonne / Luft" am Schauspiel Frankfurt ein gnadenlos heiteres Stück von Elfriede Jelinek gesehen.||
Das Städel Museum in Frankfurt würdigt bis 14. April 2024 Miron Schmückle mit "Flesh for Fantasy". Nicht bei den Alten Meistern, nicht bei den Modernen in den unteren Gartenhallen, sondern genau dazwischen: dort, wo man normalweise nur durchläuft. Das ist neu - und der kuratierende Direktor Philipp Demandt beweist ein sehr gutes Händchen damit. Denn die zum Teil riesigen Werke des gebürtigen Rumänen zeigen nichts als Blumen, Phantasiegebilde in Aquarell. Hier kommen sie zur Geltung - nahezu hyperrealistisch echt in der Darstellung von Blüten und Knospen, bis hin zu kleinen Details in Staubgefäßen, Samenständen oder Luftwurzeln. Dabei strahlen diese Organismen in rot, blau, purpur, orange oder gelb. Auch in großem Format, das keck von der Decke hängt. Es gibt deutliche Anlehnungen an die Tradition der Blumenmalerei wie man sie bei den Miniaturen von Georg Hoefnagel im 16. Jahrhundert findet, über den Schmückle promoviert hat. Aber natürlich grüßt auch Maria Sybilla Merian von Ferne. Wir sehen kostbare Schmuckstücke, die sehr gut zum Städel passen.
Stefanie Blumenbecker lobt das Städel für den Mut, in diesem Transit-Raum derart hochwertige Kunst zu zeigen||
Es hat 42 Jahre gedauert, bis die Oper Frankfurt nach der Skandal-Inszenierung von Hans Neuenfels "Aida" wieder auf den Spielplan gesetzt hat. Vor allem, dass Neuenfels Aida als Putzfrau zeigte, stieß damals übel auf. In der Neu-Inszenierung von Lydia Steier ist Aida wieder eine Putzfrau - vielleicht eine Reverenz an Neuenfels -, aber heutzutage ist das Publikum Schlimmeres gewohnt. Immerhin ist Aida eine äthiopische Geisel am ägyptischen Hof, und die werden mit niederen Arbeiten beschäftigt. Doch insgesamt überzeugte die Neu-Inszenierung vor allem in der zweiten Hälfte nicht, sodass es zum Schluss nicht nur Bravo-, sondern auch Buhrufe für das Regie-Team gab. Musikalisch war "Aida" jedoch über allen Zweifel erhaben. Und besonderes Lob verdient Aida-Sängerin Guanqun Yu, die trotz einer Verletzung sich nichts anmerken ließ und bis zum Schluss durchhielt.
Meinolf Bunsmann genoss die Musik in der Neu-Inszenierung von "Aida" an der Oper Frankfurt, die Regie dagegen weniger.||
Der Schriftsteller Navid Kermani stellte im Schauspiel Frankfurt sein neues Buch "Das Alphabet bis S" vor. Autofiktion hat es in der Literatur schon immer gegeben, nur der Name dafür ist neu. Kermani hat eine Erzählerin gewählt, um aus seinem eigenen Leben zu erzählen. So kann es passieren, dass die Erzählerin dem Kollegen Rafik Schami begegnet, und man fragt sich schon, woher sie ihn überhaupt kennt, während dass bei Kermani keine Frage wäre. "Das Alphabet bis S" ist kein auf einen Schluss hin durchkomponierter Roman, sondern ein Tagebuch, was Kermani erlaubt, durch die Themen zu mäandern. Er schätzt den Zufall, wie er bei der Lesung betonte. Der Titel kam zustande, weil die Erzählerin sich zu Anfang des Jahres vornimmt, ihre ungelesenen Bücher zu lesen, und immerhin schafft sie es bis zum Buchstaben "S". Auf dem Weg dahin gelingen Kermani manche Einsichten, und vor allem die Reise-Eindrücke aus Städten wie Kairo sind lesenswert.
Mario Scalla verbrachte einen anregenden Abend bei Navid Kermanis Lesung aus "Das Alphabet bis S"||
Wer sich bei diesem unwirschen Wetter "Reif für die Insel" fühlt, für den ist der neue Film von Marc Fitoussi gerade das richtige. Als Jugendliche waren Blandine (Olivia Côte) und Magalie (Laure Calamy) unzertrennlich, doch irgendwann verloren sie sich aus den Augen. 30 Jahre später treffen sie sich wieder und beschließen, einen Traum von damals zu verwirklichen: eine Reise auf die Kykladen. Allerdings müssen sie feststellen, dass ihre Vorstellungen vom perfekten Urlaub sich auseinander entwickelt haben. Bevor ihr Urlaub jedoch scheitert, treffen sie Bijou (Kristin Scott Thomas), die trotz einer Brustkrebs-Diagnose Lebensfreude versprüht. Ein Film nicht nur für Liebhaber der griechischen Inseln.
Für Ulrich Sonnenschein bringt der Film "Reif für die Insel" Lebensfreude in die Trübnis||
Das ist nicht einfach eine Lesung: Das Licht geht aus, es ist ganz dunkel – und dann steht er auf einmal angeleuchtet vorne an der Bühne und fragt: "Mögen sie Regen?" Ferdinand von Schirach als bürgerliche Erscheinung, Maßanzug, sehr gewählte Ausdrucksform, formvollendet. Er liest nicht, sondern trägt den Text des Buches vor, ein paar spontane Exkurse inklusive. Niemand sollte sich gelangweilt haben, denn er nimmt sein Publikum gelegentlich mit, klagt über Raucherfeinde, zündet sich eine an – Applaus. Applaus auch, wenn er über die Unausweichlichkeit von Ambivalenz spricht – was ist schon eindeutig im Leben? Oder in der Literatur? Alles munter witzig dahererzählt, stets mit Haltung, etwa zum Antisemitismus. Ferdinand von Schirach versteht es geschickt, in Kulturanekdoten Nachdenkliches und Unterhaltendes zu verbinden. Das kommt sehr gut an, ob Tod oder Ehekrach, der tödlich ausging – seine Leichtigkeit hilft, auch die schlechte Nachrichten zu verarbeiten.
Mario Scalla bewundert, wie man das Kunststück vollbringt, lange Textpassagen auswendig vorzutragen||
Wutbürger sind ein vieldiskutiertes Phänomen unserer Zeit; die beiden flämischen Autoren Jan Sobrie und Raven Ruëll sind der Meinung, dass es auch das Gegenteil davon gebe: "Wutschweiger". Das Staatstheater Darmstadt hat ihr "Klassenzimmerstück" aufgeführt, das tatsächlich nur knapp eine Schulstunde dauert. Ebeneser ist mit seinen Eltern in einen Wohnblock umgezogen, weil sie sich ihr Häuschen nicht mehr leisten können. Mit seiner Freundin Sammy freut er sich auf den Höhepunkt des Jahres: Skiferien mit der ganzen Klasse. Doch dann können weder er, noch Sammy mitfahren, weil ihre Eltern das Geld nicht haben. Ebeneser und Sammy beschließen, fortan aus Wut zu schweigen, und wie sich herausstellt, ist das eine ganz schön laute Botschaft. Das Staatstheater Darmstadt bietet Schulen an, mit diesem "Klassenzimmerstück" in die Schulen zu kommen.
Ursula May findet "Wutschweiger" gut, gerade weil es auf den pädagogischen Zeigefinger verzichtet.||
The Old Oak ist ein Filmdrama von Ken Loach. Der Film spielt in einem ehemaligen Grubendorf in der Grafschaft Durham im Nordosten Englands und in dem titelgebenden, letzten verbliebenen Pub. Der Film feierte im Mai 2023 bei den Filmfestspielen in Cannes seine Premiere und ist seit gestern in unseren Kinos zu sehen. Weil die Gruben geschlossen werden, verlassen die Menschen das Land. Die Häuser sind hier daher billig und stehen leer, weshalb man in der Bergarbeiterstadt im Jahr 2016 syrische Flüchtlinge unterbringt. Eine von ihnen, die junge Yara, freundet sich mit ihrem Vermieter TJ Ballantyne an, dem Besitzer des "Old Oak", der ihnen seine Räumlichkeit als Refugium zur Verfügung gestellt hat. Gemeinsam versuchen sie, die lokale Gemeinschaft wiederzubeleben, indem sie eine Armenküche einrichten, die Menschen unabhängig von ihrer Herkunft Essen gibt. Das Drehbuch schrieb Paul Laverty, der seit Loachs Film Carla’s Song mit dem Regisseur zusammenarbeitet. Loach kündigte an, "The Old Oak" werde sein letzter Film sein, bevor er sich als Filmemacher zur Ruhe setzt.
Ulrich Sonnenschein hat solch einen Ken Loach noch nie gesehen||
Die Sauna, um die sich der Dokumentarfilm "Smoke Sauna Sisterhood" dreht, steht in Estland, aber sie könnte überall in Nordeuropa stehen. Anders als hierzulande üblich, besuchen im Norden die Geschlechter streng getrennt die Sauna. Dort öffnen sich nicht nur die Poren, sondern auch die Herzen. Die Frauen, die Regisseurin Anna Hints begleitet, sprechen über Schönheit und Familie, aber mit der Zeit kommen auch schwierigere Themen zur Sprache. Da berichtet die eine von ihrem lesbischen Coming-out, die andere von Geburtsschmerzen, die dritte von einer Vergewaltigung und dass das Spießrutenlaufen danach beinahe noch schlimmer war. Trotzdem versichert hr2-Kritiker Ulrich Sonnenschein, dass "Smoke Sauna Sisterhood" nichts Voyeuristisches an sich habe. Der Film wurde beim Sundance-Film-Festival für die beste Regie ausgezeichnet.
Ulrich Sonnenschein beschreibt "Smoke Sauna Sisterhood" als dokumentarisches Gedicht in Bildern.||
Theater für Kinder ist wahrscheinlich das schwerste - ist es nicht gut, dann herrscht Unruhe im Parkett. Im Staatstheater ist es dagegen mucksmäuschenstill, gespannt verfolgen Kinder und Anhang das Geschehen in diesem Musical: Lyman Frank Baums "Zauberer von Oz", vor über 100 Jahren als Wunderwelt ausgedacht, wird in Darmstadt ins Heute gebracht - man dreht kleine Videos und möchte damit viral gehen, der Vater findet das nicht so optimal - eine Alltagssituation, die viele Kinder und Eltern kennen. Und diese Version ist trotzdem phantastisch märchenhaft: Der Blechmann eine wunderbare Blechfrau, die köstlich quietscht und knarzt, die Hexe als Dragqueen mit glitzernden Plateaustiefeln und viel weniger bedrohlich als im Original. Per Heißluftballon mit vielen grünen Luftballons schwebt Doro in die Smaragdstadt, viele Seifenblasen begleiten sie - es folgt eine Stunde Wunderbares. Insgesamt eine bunte und besonders klangvolle Welt, viel Applaus kleiner Hände belohnen Sänger und das Team um Regisseurin Caroline Stolz, Designerin Nina Wronka und Timo Willecke, der komponiert und dirigiert hat.
Susanne Pütz imponierte die Band und ihre Geräusche aus dem Orchestergraben des Staatstheaters||
Das Museum für Moderne Kunst in Frankfurt zeigt eine bedeutende Künstlerin, die über Jahrzehnte von den grossen Museen dieser Welt schlicht vergessen oder ignoriert wurde. Die US-amerikanisch-mexikanischen Malerin und Bildhauerin Elisabeth Catlett hatte ein, sagen wir mal, angespanntes Verhältnis zu ihrem Geburtsland USA, wo sie als schwarze Frau mit Haltung schikaniert und verfolgt wurde. Jetzt sehen wir Zeichnungen, Lithografien, Holz- und Linoldrucke, sehr viele Skulpturen. Catlett hat in ihrer 70 jährigen Schaffenzeit ein riesiges Werk hinterlassen, das von ihrer Person und ihrem "Schicksal" nicht zu trennen ist: Vor allem Porträts von Frauen, von Müttern mit Kindern, Skulturen von Frauen, die raumfüllend dastehen, die ihre Fäuste in die Luft recken, aufrecht mit beiden Beinen auf dem Boden - und stolz, im Kampf, gegen Unterdrückung. Höchste Zeit, dass wir Elizabeth Catlett würdigen und ihr den Platz einräumen, der ihr gebührt. In Frankfurt lernt man ihr Werk gut, sie als Mensch leider zu wenig kennen, noch nicht einmal ein Foto von ihr ist zu finden, schade.
"Momo" von Michael Ende ist ein Klassiker der Kinderbuchliteratur. Das Schauspiel Frankfurt beweist, dass die Geschichte auch auf der Bühne funktioniert. Momo, die in Ruinen am Rande der Stadt lebt, hat eine Gabe, für die sie alle lieben: Sie kann zuhören. Doch plötzlich hören die Menschen auf, sie zu besuchen; die grauen Herren von der Zeitsparkasse sind aufgetaucht, die den Menschen einreden, sie müssten Zeit sparen. Mit Hilfe der Schildkröte Kassiopeia bringt Momo den Menschen ihre Zeit zurück. Es gibt viel zu bestaunen in der Inszenierung, die so dicht gepackt ist, dass manche Kinder Schwierigkeiten haben werden zu folgen. Von daher ist es ratsam, vor dem Besuch der Vorstellung das Buch mit den Kindern zu lesen.
Bastian Korff hat Michael Endes "Momo" schon als Kind mit der Taschenlampe im Bett gelesen.||
In dem Schauspiel "Grimm: Ein deutsches Märchen" am Staatstheater Kassel sitzt die Familie Grimm um einen Tisch herum und erzählt einander Märchen, schlüpft aber auch in Märchenrollen. Die brutale Seite, die manche Grimmschen Märchen an sich haben, wird dabei nicht ausgespart: In der Kasseler Rotkäppchen-Version frisst der Wolf die Oma. In der historischen Wirklichkeit saßen Jacob und Wihelm Grimm in Kassel gleich um die Ecke vom Staatstheater und sammelten ihre Märchen. Die Zuschauer erfahren auch viel über das Zeitgeschehen. Vor gut 200 Jahren war Napoleon mit seiner Armee in den deutschen Ländern eingefallen und die Arbeit am Wörterbuch diente auch der Selbstbehauptung der deutschen Sprache. Nur manchmal rutscht die Inszenierung ins Slapstick-hafte ab, wenn etwa Ludwig Emil Grimm einen Hund gibt. Dem Publikum - das auffallend jung war - hat's gefallen.
Jens Wellhöner erlebte mit "Grimm: Ein deutsches Märchen" einen bildergewaltigen Theaterabend am Staatstheater Kassel||
Das Hessische Landesmuseum Darmstadt stapelt tief, wenn es seine neue Ausstellung schlicht "Grünzeug" nennt. Was sich in der Ausstellung öffnet, ist ein Lustgarten, in dem die Kuratoren ihrer Fantasie freien Lauf gelassen haben. Die Ausstellung beginnt mit Pflanzendarstellungen aus dem Mittelalter, in dem es noch weniger um die Pflanzen an sich ging, sondern um die Tatsache, dass im Paradiesgarten nun einmal Pflanzen wuchsen. Aber auch ein so abstruses Bild wie das Jesuskind auf einem Kohlkopf ist dabei. Später interessieren sich die Künstler aber für die Pflanzen selbst, wenn etwa die Nürnberger Malerin Barbara Regina Dietzsch bereits im 18. Jahrhundert Rüben und andere Wurzelgemüse in leuchtenden Deckfarben malt. Dazwischen sitzen John Lennon und Yoko Ono im Bett und halten Tulpen in die Kamera. Und auch die Wahlplakate der Grünen kommen nicht ohne Blumen aus. Die 125 Werke auf Papier bieten einen wilden Ritt durch die Pflanzendarstellung in der Kunstgeschichte, doch der Ausstellung gelingt es, immer die Balance zu halten.
Für Stefanie Blumenbecker ist "Grünzeug" im Hessischen Landesmuseum Darmstadt gerade die richtige Ausstellung für eine trüben Novembertag.||
Wir sind im Sommer 1981, Cáit ist neun Jahre alt, sie hat drei Schwestern, die Mutter ist schon wieder schwanger, die Familie lebt auf dem Land, ist völlig aus den Fugen und arm und wenn man so mit dem reinen Überleben beschäftigt ist, ist kein Platz mehr für Emotionen und Empathie. Jetzt kommt das nächste Baby und sie soll den Sommer auch noch bei entfernten Verwandten auf einem Bauernhof verbringen, die sie nicht kennt und die sie nicht kennen. Sean und Eibhlin. - Es sind große Bilder und große Stimmungen und es ist vor allem eine sehr intensive Spannung zwischen Traurigkeit, die aus der Vergangenheit kommt, und Freude, die in einer neuen Gegenwart entsteht. Das Ende ist ganz unvorhersehbar, aber sehr stimmig und es gibt Raum für Hoffnung. Kein Happy End, aber sowas gibt’s im Kino ja gern mal, wenn man nicht mehr weiter weiß. Und das würde zu "The quiet girl" so gar nicht passen.
Daniella Baumeister findet erstaunlich, wie sicher Regisseur Com Bairead Zwischentöne trifft||
Es ist ein tolles Quartett, das sich mit einem beeindruckenden Konzert vorgestellt hat – erstaunlich, dass es in Frankfurt schon wieder ein Streichquartett gibt, das solch Können und Format hat. Das Aris Quartett und das Eliot Quartett, bereits früher in Residenz im Holzhausenschlösschen, haben sich international einen Namen gemacht – in diese Reihe wird jetzt auch das Malion Quartett gestellt – zurecht. Der langsame Satz von Anton Webern, das 2. Streichquartett von Felix Mendelssohn Bartholdy, komponiert im Alter von gerade einmal 20 Jahren, dann Beethovens op. 59 Nr. 1 - Wiener Klassik oder doch schon Romantik? Alles in allem ein wirklich anspruchsvolles Programm, das die vier sehr differenziert, kontrast- und farbenreich präsentiert haben, das Spektrum reicht von satten, fast schon stampfenden Akkorden bei Beethoven bis zur flirrenden Leichtigkeit bei Mendelssohn – alles sehr fein ausgearbeitet und homogen im Zusammenspiel. Anspruchsvoll übrigens auch für das Publikum, das dem Malion Quartett konzentriert gefolgt ist – das war auch gefordert, denn die Konzerte sind ohne Pause konzipiert.
Martin Grunenberg empfiehlt den Besuch eines der Konzerte im Frankfurter Holzhausenschlösschen||
Am Sonntag gastierte das NDR-Elbphilharmonie-Orchester unter Alan Gilbert in der Alten Oper Frankfurt. Allein schon das Violinkonzert von Tschaikowsky sowie die 5. Sinfonie von Gustav Mahler erfordern zweieinhalb Stunden Zeit. Für Unermüdliche bot die Alte Oper aber auch noch ein Programm namens "Musik plus Geschichte" an. Um 16 Uhr ging es los im Historischen Museum mit einer Einführung, wie in Frankfurt das Musikleben um 1880 aussah. Danach folgte um 19 Uhr das Konzert in der Alten Oper mit Starsolist Joshua Bell an der Geige. Der heute 55-jährige erzählte, dass er bereits mit knapp 18 Jahren zum ersten Mal auf der Bühne der Alten Oper gestanden habe. Begleitet wurde Bell vom NDR-Elbphilharmonie-Orchester unter Alan Gilbert, der selbst auch Geiger war, von daher das Orchester mit Gespür den Tempowechseln von Bell anpasste. Nach sechs Stunden Musikgeschichte plus Konzert beendete unser Rezensent beglückt und angenehm ermüdet einen mit Kultur vollgestopften Sonntag.
Meinolf Bunsmann genoss den Geiger Joshua Bell mit dem NDR-Elbphilharmonie-Orchester in der Alten Oper Frankfurt||
1957 in Ghana geboren gilt John Akomfrah in Großbritannien als einer der bedeutendsten Video- und Filmschaffenden, auf der Biennale in Venedig darf er 2024 den britischen Pavillon bespielen. Davor ist er Gast in der Kunsthalle Schirn mit der Schau "A Space of Empathy": Was ihn seit Jahrzehnten umtreibt, ist der nicht nur britische Kolonialismus (und was er angerichtet hat) und was die westliche Ausbeutungsmaschine anderen Menschen, der Natur, diesem Planeten antut. Er hält Empathie nicht für ein Modewort, sondern will für dieses verstehende Nachempfinden ein Gefühl vermitteln. Das tut er, indem er dokumentarische Bilder zeigt, die sich selbst kommentieren und ergänzen. Das kann harmonisch sein oder dissonant – so wie Natur romantisch schön sein kann, aber auch wild bewegt, gefährlich, als Vulkanausbruch und Wirbelsturm. Akomfrah zeigt den Gegensatz von friedlicher Natur und brutalem Menschen, in mitunter grausige Videos: Riesenharpunen werden in Wale gejagt - Fischtrawler als Kriegsschiffe gegen intelligente Säugetiere. Man verlässt die Schau reich an Eindrücken, obwohl kein hektischer, schneller Schnitt anstrengt, bewirken die langen intensiven Einstellungen, das man die Bilder eine Weile auf sich wirken lassen kann – in der berechtigten Erwartung, dass sie auf Langzeitwirkung zielen.
Mario Scalla empfiehlt, sich ausführlich Zeit zu nehmen und/oder das Doppelticket zu nutzen||
Die Aktion, die der Film "Miss Holocaust Survivor" dokumentiert, hat viel Kritik auf sich gezogen: In einem Altersheim mit Überlebenden der Judenvernichtung wird ein Schönheitswettbewerb abgehalten. Das sei doch makaber, war die Reaktion vieler Menschen, die davon hörten. Ganz anders die Reaktion der beteiligten vierzehn Frauen, die mit Eifer dabei waren. Sie waren durchweg sehr jung, als sie teilweise mehrere Konzentrationslager durchlitten. Den Schönheitswettbewerb erleben sie als Feier ihres Überlebens - es ist der einzige Schönheitswettbewerb der Welt, bei dem es auf innere statt auf äußere Schönheit ankommt.
Ulrich Sonnenschein erzählt von den starken Frauen im Dokumentarfilm "Miss Holocaust Survivor", die die Judenvernichtung überlebt haben.||
Als "Zeitfenster" zeigt der Bildhauer Stephan Balkenhol im Museum Wiesbaden 45 seiner typischen Holz-Skulpturen - nicht vor weißen Wänden in einem modernen Umfeld, sondern inmitten von mittelalterlicher Kunst, Renaissance-Malerei und Landschaften. Er setzt sie so ein, dass etwas Neues entsteht, eine Spannungssituation zwischen Bildhauerei und Malerei. Ein Wagnis? Schnell hätten die hölzernen Figuren auch abgestellt wirken können, belanglos oder fremd. Stattdessen aber entsteht Magie: Balkenhols Kunstfamilie, die er im Laufe der Jahre geschaffen, ist zu Besuch im Museum. Da steht eine Frau im grünen Mantel vor einem alten Mariengemälde und man entdeckt die Farbe in den Gewändern auf den Bildern dahinter: Die Heiligenfigur erscheint nicht mehr so fremd. Die Skulpturen sind so gestellt, dass sie die Gemälde zu betrachten scheinen, der eigentliche Besucher – also wir alle – scheinen sich in ihnen regelrecht zu spiegeln. Als würden sie uns verdoppeln. Sie verlebendigen die Räume. Man hat Gesellschaft - und entdeckt durch diese Ausstellung die Alten Meister im Museum Wiesbaden ganz neu.
Stefanie Blumenbecker bewundert den Mut der Museumsleitung, dem Bildhauer alle Freiheiten gegeben zu haben||
Ein Klassiker, der Nähe zum Romantikmuseum und Goethehaus verpflichtet: Der Briefroman "Werther" in einer dramatisierten Version, oder wie es heißt: Nach Johann Wolfgang Goethe: Das Schöne an diesem Frühwerk ist, dass es jede Generation es neu für sich entdecken kann: Leiden an der Enge der Gesellschaft, jugendliches Unwohlsein, Liebesschmerz – zeitlose Zutaten für immer neue Aktualisierungen. In Frankfurt kommen Marlene-Sophie Haagen und Sam Michelson in der Regie von Sarah Kortmann lässig wie cool in Schwarzer und Schlabberlook, haben keine klaren Rollenzuweisungen, also sind Lotte und Werther im Heute, unangepasst, vielleicht Aktivisten, politische Einzelgänger. Das überdimensionale Herz beherrscht das Bühnenbild, die zwei Schauspieler öffnen den Raum, spielen mit dem Publikum – eine lebendige, offene Inszenierung, deren hybrider Text viel Goethe-Sound enthält - und den Rat wie von einer Paartherapeutin von heute: "Befreie dich von dieser Liebe, dieser Anhänglichkeit!" Liebeskummer ist also therapierbar - aber die Gesellschaft?
Mario Scalla hat die Premiere auf der Frankfurter Volksbühne als zeitgemäß erlebt||
Eigentlich wollte die Oper Frankfurt György Ligetis "Le grand macabre" 2020 aufführen, aber da machte die Corona-Pandemie einen Strich durch die Rechnung. Das Warten hat sich gelohnt. Schon das üppige Bühnenbild bekam einen Sonderapplaus vom Publikum. Inhaltlich geht es um nichts weniger als den Weltuntergang, den der Prophet Nekrotzar verkündet: Ein Komet wird auf der Erde einschlagen und die Menschheit auslöschen. Die lässt daraufhin noch einmal die Sau raus. György Ligeti verlangt den Sängern und dem Orchester fast schon Unmögliches ab, doch sie meistern die Herausforderung. Am Ende fliegt der Komet an der Erde vorbei. "Die Moral von der Geschicht': Fürchtet den Tod nicht, gute Leut' / Irgendwann kommt er, doch nicht heut' / Und wenn er kommt, dann ist's soweit, / Lebt wohl so lang in Heiterkeit."
Meinolf Bunsmann war so begeistert, dass er sich "Le grand macabre" ein zweites Mal anschauen wird.||
Hochgesteckte Haare mit Blumen, farbenfrohe Trachten, unverwandter Blick. Längst ist die mexikanische Malerin Frida Kahlo Teil der Popkultur. Die Opelvillen Rüsselsheim zeigen jetzt eine weniger bekannte Seite der Künstlerin: "Frida Kahlo. Ihre Fotografien". Kahlo ist 1954 gestorben, doch ihr Ehemann Diego Rivera setzte durch, dass das Zimmer, in dem die Künstlerin ihre Fotos aufbewahrte, erst ein gutes halbes Jahrhundert später geöffnet wurde. Viele Fotos stammen von Familienmitgliedern, einige auch von Kahlo selbst, die Tochter eines Fotografen war. Der Zeit gemäß sind die Fotos schwarz-weiß, was natürlich einen anderen Eindruck als ihre farbenfrohen Gemälde hinterlässt. Doch wen die Gemälde Kahlos faszinieren, der erfährt in diesem Schatzkästlein mehr über den familiären Hintergrund ihrer Entstehung.
Tanja Küchle fühlte sich in den Opelvillen Rüsselsheim in einem Schatzkästlein der Fotografie||
"Anatomie eines Falls" von Justine Triet hat bei den Filmfestspielen in Cannes den Hauptpreis errungen; jetzt kommt er in die deutschen Kinos. Das deutsch-französische Schriftsteller-Ehepaar Samuel und Sandra scheint nach außen hin eine harmonische Ehe zu führen. Gemeinsam ziehen sie in den französischen Alpen ihren sehbehinderten Sohn groß. Doch plötzlich liegt Samuel blutüberströmt tot im Schnee und in den folgenden Prozess geht es um die Frage: Unfall, Suizid, Totschlag? "Ich habe ihn nicht getötet", verteidigt sich Sandra. "Darum geht es doch gar nicht", erwidert ihr Anwalt. Mit allen Finessen versuchen die Prozessparteien die Geschworenen auf ihre Seite zu ziehen. Und dann kommt auch noch der Sohn Daniel ins Spiel, der mehr mitbekommen hat, als es anfangs schien. Vor allem aber ist Sandra eine Paraderolle für Sandra Hüller, die hier ihr ganzes Können zur Schau stellt.
Daniella Baumeister vergibt für "Anatomie eines Falls" das maximale Lob: Dies sei der perfekte Film.||
Die Neue Galerie in Kassel zeigt die Sonderausstellung "Fritz Winter - documenta-Künstler der ersten Stunde". Wegen seiner Bildsprache zu Beginn der 50er Jahre gilt er als einer der bedeutendsten Vertreter der deutschen Nachkriegsmalerei, war superprominent auf der ersten documenta ausgestellt und hat quasi im Alleingang dort demonstriert, dass Kunst in Deutschland wieder international auf der Höhe der Zeit ist: Schwarze Balken-Formen schweben vor gelb, grau und blau. Die Bilder sind farbstark, spielerisch, lyrisch. Sie leben von Rhythmus, Tonalität und Klang - ein bisschen wie farbgewordener Jazz. Man sieht immer wieder schwarze dünne Linien und kräftige Formen, die mit farbigen Flächen und Formen ein lebendiges Gleichgewicht finden. Auch wenn diese Malerei nichts konkret Politisches thematisiert, so erscheinen sie doch als intuitive Bildwerdung auf Bedrohung, eine sich schließende Gesellschaft und mächtige dunkle Kräfte. Unglaublich gute Malerei!
Stefanie Blumenbecker empfiehlt das Werk eines Künstlers, der Maßstäbe wie Picasso gesetzt hat||
Eine Premiere verschieben, das macht man nicht ohne weiteres, aber das Warten auf den Bariton Grga Peros hat sich gelohnt: Dieser Rigoletto an der Seite des warm timbrierten Michael Ha (Herzog von Mantua) und der klaren, zerbrechlichen "Gilda" Annika Gerhards ist großartig, kraftvoll, differenziert, ja: ergreifend gesungen! Die Erfolgsoper von Giuseppe Verdi über Moral, Liebe und eine Drei-Klassen-Gesellschaft kommt am Stadttheater Gießen im schlichten Bühnenbild daher, das Philharmonische Orchester unter Andreas Schüller kostet die kammermusikalischen Momente aus, ergänzt manch Düsternis auf der Bühne bis zur Gänsehaut. Die berühmte Arie "Donna e mobile", die am Ende aus dem Off ertönt und schaurige Gewissheit bringt, beendet eine sehenswerte Inszenierung und diesen hörenswerten Abend. Bravi!
Christiane Hillebrandt bewunderte am Stadttheater auch den herrlichen und gut mitspielenden Männerchor ||
Ihr Sohn hat einen Mord begangen - soviel ist unstrittig in "Die Masken des Teufels" von David Mamet am Staatstheater Wiesbaden. Eine Mutter würde trotzdem alles tun, um ihn vor dem Gefängnis zu bewahren. Darf sie wirklich alles, fragt David Mamet, denn die Mutter - wohlhabend und gut vernetzt - scheut vor keinem Mittel zurück. Zwei Polizisten, die schon längst den Glauben an den Rechtsstaat verloren haben, flüchten sich in ein zynisches Lob des Schlagstocks. Und die Mutter fragt sich: Könnte man nicht die Geschworenen bestechen? Und was ist mit dem Opfer? Hat sie nicht den Sohn verführt? Und dann ist die auch noch eine Jüdin. Je länger "Die Masken des Teufels" währt, desto monströser werden die Rettungsversuche, die sich die Mutter ausdenkt. David Mamet fragt in seiner Versuchsanordnung, was ein liberales Rechtssystem an Angriffen von prinzipienlosen Menschen aushält.
Mario Scalla bescheinigt dem Text von "Die Masken des Teufels" einige Schwächen, die aber geschickt von der Regie aufgefangen werden.||
Die als "Balladenmärchenminioper" vom Staatstheater Darmstadt angekündigte Oper "Mina oder die Reise zum Meer" ist in jeder Hinsicht mini: Es singt genau ein Bariton (David Pichlmaier); für die Musik sorgt genau eine Flötistin. Die Oper dauert 50 Minuten und überschreitet damit sogar schon die vorgesehene Zeit. Inhaltlich geht es um das stumme Mädchen Mina, das mit seinem schwarzen Schäfchen "Wölkchen" zum Meer zieht. Zu den Abenteuern, die Mina zu bewältigen hat, gehören die Folgen eines Krieges. Empfohlen wird die Oper für Kinder ab fünf Jahren. Dass die Musik atonal ist, störte zumindest die bei der Premiere anwesenden Kinder nicht. Die Musik schien eine eher beruhigende Wirkung auf sie auszuüben. Ob man 50 Minuten lang den klagenden Klang einer Flöte vertragen kann, mag jeder für sich entscheiden.
Natascha Pflaumbaum hat Zweifel, ob "Mina oder die Reise zum Meer" wirklich kindgerecht ist.||
Wer hat sich nicht schon gewünscht, bei einem Film die Regie zu übernehmen? Sei vorsichtig, was du dir wünschst, würde man in England dazu sagen, es könnte wahr werden. Bei der Video-Oper "Kairosis", die im Frankfurter Netzwerk Seilerei gezeigt wurde, durfte das Publikum immer wieder selbst entscheiden, wie es weitergehen sollte. Nur entschied das Publikum schlecht, wie der Schöpfer der Video-Oper Moritz Eggert es wiederholt wissen ließ. So starb die Protagonistin zweimal innerhalb von kurzer Zeit, sodass Eggert mit dem Film von vorne anfing. Gesungen wurde nicht, sodass die Erwartung auf eine Oper enttäuscht wurde. Die besten Musikstücke steckten in Handlungssträngen, gegen die sich das Publikum entschieden hatte, ließ der Komponist das Publikum wissen. Zum Schluss fragte sich nicht nur unser Kritiker, was das Ganze soll.
Bastian Korff liebt Oper, und er liebt Video-Spiele. Beides bekam er nicht.||
Im Nassauischen Kunstverein zeigen fünf an der Hochschule Rhein/Main lehrende Künstler Fotografien, Filme und Zeichnungen. Die Fragestellung: Menschen brauchen andere Menschen, Beziehungen, Partnerschaften, Nachbarn, Netzwerke, Dialoge, Antworten, Reaktionen der Umwelt auf uns, unsere Person, unsere Arbeit oder Gedanken. Wie schaffen wir Resonanz (vgl. Positionen des Soziologen Hartmut Rosa)? Die Werke von Juliane Henrich, Kay Fingerle, Holger Kleine, Ralf Kunze und Theo Steiner haben unsere Kritikerin zum Teil angesprochen und berührt, anderes erschien ihr etwas verkopft, manches zu beliebig. Die Ausstellung ist Teil der Bewerbung der Stadt Frankfurt als Design-Demokratie-Hauptstadt, von daher geht es auch um die Gestaltung von Stadträumen, Häusern, Straßen, Plätzen, Arbeitsplätzen, Schulen usw., die unsere Gesellschaft strukturieren. Gibt es Orte, an denen sich Menschen begegnen können? Wie bewegen wir uns fort, wie bauen wir, wie funktioniert Stadtgesellschaft? Die künstlerischen Beiträge gehen hier sehr frei mit diesen Themen um - es darf gedacht werden!
Für Stefanie Blumenbecker hat sich der Besuch der "Resonanzräume" in Wiesbaden gelohnt||
Wiesbadens Intendant Uwe Eric Laufenberg lässt es in seiner letzten Spielzeit noch mal richtig krachen: Eine Drehbühne mit vielen Treppen für die rund 20 Darsteller, 14 Tänzer plus Statisterie, ein Füllhorn von wunderbar fantasievollen Kostümen (Federn, Pailletten!), ein rund 25-köpfiges Orchester im Graben und noch ein Piano-Trio auf der Bühne - im Musical "Follies" von Stephen Sondheim, dessen Nicht-Handlung eine Regie-Herausforderung ist. Egal, am Ende gibt es langanhaltenden Applaus und viele Bravorufe. Albert Horne überzeugt als agiler Dirigent und tattriger Theaterdirektor Weismann, alle Solo-Rollen sind sehr gut besetzt, Publikumslieblinge waren die umwerfende Andrea Baker als Hattie bzw. Stella; April Haider, elegant und rasant als Carlotta; Jacqueline Macaulay als bissige Phyllis, die für Lacher gesorgt hat, und Pia Douwes, die im berühmten "Losing my mind" den Verstand verliert. Man hätte sich die Songs sehr gut auch auf englisch gesungen vorstellen können, das Deutsch (auch wenn gut übersetzt vom erfahrenen Martin. G. Berger) klingt das irgendwie altbacken. Aber dennoch: Überzeugend!
Meinolf Bunsmann war am Ende vom großem Glamour im Staatstheater hingerissen||
Daniel Kehlmann hat sein neues Buch "Lichtspiel" (Rowohlt Verlag) vorgestellt. Er portraitiert einen der heute weniger bekannten Männer des frühen Films, Regisseur Georg Wilhelm Papst. 1885 in Böhmen geboren, 1967 in Wien gestorben, hat er Stummfilme und Tonfilme gemacht, "Die freudlose Gasse", "Die Büchse der Pandora", hat Brechts/Weills "Dreigroschenoper" verfilmt, etwa 40 Werke, auch in Hollywood. Kehlmanns Roman folgt der Technik, sich Gespräche auszudenken (siehe "Die Vermessung der Welt"): Im Buch redet Papst mit Goebbels, obwohl sie sich nie getroffen haben. Eine Geschichte, wie ein unbestrittenes Talent sich nur kurz frei entfalten kann - und von der Tragik, die Kehlmann in oft humoristische Farben taucht. Papst hat große Filme mit Greta Garbo und Werner Krauß gedreht, ist erst in die Mühlen der US-Geldmaschine, dann der NS-Propaganda geraten, wandelte sich vom wilden sozialkritischen Regisseur der 1920er Jahre zum bloßen Diener der seichten Unterhaltungswirtschaft der jungen deutschen Republik nach 1945. Kein Grund für Kehlmann, über ihm den Stab zu brechen, er moralisiert das alles nicht.
Mario Scalla hat erfahren, was Daniel Kehlmann über den Regisseur herausgefunden hat||
Als sich Ingeborg Bachmann und Max Frisch im Sommer 1958 treffen, verlieben sie sich sofort ineinander und versuchen vier Jahre lang, ihre offene Beziehung zwischen Zürich und Rom am Leben zu erhalten. Sie scheitern krachend – und sind jetzt in einem neuen Kinofilm wieder auferstanden, wiederbelebt von Margarethe von Trotta. Wird zwei Stunden im Kino nur gestritten? Überhaupt nicht, es gibt schöne Liebesszenen, schöne Liebesdialoge, immer wieder Ansätze zu einem beneidenswerten Lebensentwurf, und vielversprechenden Perspektiven, aber es ist halt alles mit vollem Risiko, großer Leidenschaft und egoistischen Empfindlichkeiten, und jeder Funke kann auch wieder ein Feuer – positiv wie negativ – entfachen. Am Ende unternimmt die Bachmann "Eine Reise in die Wüste". So heißt der Film, nicht "Ingeborg und Max". Ein gefühlvolles Werk mit großem Respekt der Altmeisterin des Portraits vor zwei sensiblen und kreativen Menschen.
Daniella Baumeiser will jetzt wieder die Texte der beiden lesen||
Inmitten der Sammlung Alte Meister präsentiert das Städel Museum eine Ausstellung mit Arbeiten des rumänischen Künstlers Victor Man. Er gehört, so sagt das Museum, zu den gefragtesten und gleichzeitig rarsten Malern der Gegenwartskunst. Seine Bilder haben eine ungeheure malerische Qualität und etwas Unfassbares. Die Oberfläche seiner Ölmalereien zeigen einen regelrechten Schmelz, die Farben sind sehr dunkel, viel grün und blau. Immer wieder schimmern Lichter auf. Zwischen den tonigen Partien in tiefen Braun oder Grautönen strahlen Stoffe, Haut oder Blumen auf, als würden sie von innen heraus leuchten. Die Bilder verführen dazu, sie mit den Augen regelrecht abzutasten. Sie sind sinnlich und haben etwas überzeitliches. Der volle Titel der Ausstellung, der Hölderlin zitiert, lautet: "Die Linien des Lebens sind verschieden. Wie Wege sind, und wie Berge grenzen. Was wir sind, kann dort ein Gott ergänzen. Mit Harmonien und mit ewigem Lohn und Frieden." Wow!
Stfanie Blumenbecker empfindet die gewagte Hängung als Bereicherung||