Mitten in die erste Hitzewelle dieses Sommers fällt die Premiere des Stückes "Fifty Degrees of Now". Es spielt in der nahen Zukunft und verhandelt extreme Hitzewellen mit Todesfolgen - in Gießen wurden damit die Hessischen Theatertage eröffnet. Intendantin Simone Sterr macht aus dem erfolgreichen Roman von Kim Stanley Robinson ein Debattenstück, bei dem das Publikum gewissermaßen Teil von Meetings wird - auch sitzt es weit um die Szene herum (was akustische Probleme birgt). Am Ende siegt die Vernunft, aber erst, nachdem ein junger Mann "angry" wird. Kein schwieriger Stoff fürs Theater, aber wenn in der ersten Stunde ausschließlich bekannte Fakten wiederholt werden, ermüdet das die dem Thema doch aufgeschlossenen Zuschauer zu arg.
Esther Bold war bei "Fifty Degrees of Now" am Stadttheater Gießen ziemlich erschlagen||
Die Sonderausstellung "Graphic Revival" im Hessischen Landesmuseum Darmstadt präsentiert englische Radierungen aus der Wende vom 19. aufs 20. Jahrhundert. Die Radierung ist eine Technik, die man eher mit Rembrandt verbindet, aber um 1900 entdeckten englische Künstler ihre fantastischen Möglichkeiten wieder. Sie dokumentierten damit, wie die Industrialisierung die Landschaft veränderte: Statt Kirchtürmen beherrschten jetzt Fabrikschlote das Bild. Die Ausstellung umfasst 75 Werke von 25 Künstlern sowie sogar drei Künstlerinnen.
Tanja Küchle begeisterte sich für die Qualität der Drucke in der Sonderausstellung "Graphic Revival" in Darmstadt.||
Gehören Sie zu denjenigen, die in der Schule Mathe immer gehasst haben? Und für die sich die Welt der Zahlen nie erschlossen hat? Oder gehören sie zu denjenigen, die die Zahlen immer geliebt haben, die im Rest der Welt oft nicht verstanden oder als Außenseiter angesehen wurden? Im Film "Die Gleichung ihres Lebens" lernen wir Marguerite kennen, Mathematikstudentin an einer Pariser Elitehochschule, gespielt von Ella Rumpf. Sie macht aus dem vergeistigten Mauerblümchen eine selbstbewusste, attraktive Frau, die nicht nur beim illegalen Glücksspiel die chinesische Mafia vorführt - und sie ist bis in die letzten kleinen Gesten sehr überzeugend.
Daniella Baumeister steht mit Zahlen auf Kriegsfuß, empfiehlt aber "Die Gleichung ihres Lebens"||
Die Hersfelder Festspiele sind in die neue Saison gestartet. Zum Auftakt gab es eines der meistgespielten Theaterstücke überhaupt: Die sozialkritischen, satirisch-skurrilen Texte von Bertholt Brecht, dazu die Musik von Kurt Weill begeistern seit fast hundert Jahren. Und sie laden zu immer neuen Interpretationen und Inszenierungen ein.
Vera John fand den "Queen"-Zugang originell und erlebte rasante zweieinhalb Stunden in der Stiftsruine||
Der "Kultursommer Südhessen" lud am Samstag zum Kammerkonzert nach Bickenbach ins ehemalige Jagdschloss, das inzwischen als Rathaus dient. Wenn man heute Musik hören will, schaltet man einfach das Radio ein; im 18. Jahrhundert nahm der Fürst seine Musiker mit auf Reisen. Zu teuer durfte die Angelegenheit nicht sein, und so komponierte der Darmstädter Kapellmeister Georg Sartorius "Harmoniemusik" für insgesamt acht Oboen, Klarinetten, Hörner und Fagotte. Das ehemalige Jagdschloss beherbergt keinen Konzertsaal. Aber was die "Darmstädter Harmoniemusik" unter diesen Umständen bot, war Kammermusik auf höchstem Niveau sowie als Zugabe ein unterhaltsames Quiz für Musikfreunde.
Meinolf Bunsmann verbrachte einen angenehmen Konzertabend mit der "Darmstädter Harmoniemusik" in Bickenbach.||
Das Theater Willy Praml hat "Der Feind" von Julien Green ins Programm genommen. Der französische Schriftsteller war kein Freund der Revolution, aber gerade das kann ja den Blick schärfen. Sein Stück spielt 1785, also vier Jahre vor der Französischen Revolution, was die Protagonisten noch nicht wissen, jedoch ahnen können. Der Graf von Silleranges langweilt sich auf seinem Schloss; weil er impotent ist, lässt er seine Frau von seinem Bruder befriedigen. "Der Feind", wenn man darunter das Volk versteht, betritt noch nicht die Bühne. Es fällt schwer, bei dem Stück aus dem Jahr 1954 nicht an das Frankreich von heute zu denken, das auch kurz vor einer Revolution zu stehen scheint.
Mario Scalla war überrascht, wie aktuell Julien Greens "Der Feind" aus dem Jahr 1954 heute wirkt.||
Die Ausstellung würdigt Filme seit 2000, allesamt hiesige Produktionen - da sind zwei goldene Ringe aus "Fuck ju Göte" aus dem Jahr 2013, das Plüschtier aus "Keinohrhasen" (2007) von und mit Til Schweiger, Requisiten aus "Good Bye Lenin", ein Filmplakat vom "Schuh des Manitu" und Geheimnisvolles aus "Bibi Blocksberg" von Hermine Huntgeburth, Bilder aus "Systemsprenger" von Nora Fingscheidt . Diese Schau vereint das Sinnliche mit dem Faktischen - welcher Film war erfolgreich, konnte sich (an der Kasse und im Gedächtnis) halten? Welche Rolle spielten die Festivals, wer wurde entdeckt, drehte was, wer wurde von wem beeinflusst? Und stimmt es, dass Beziehungskomödien hierzulande beliebt sind, aber Filme wie "Gegen die Wand" von Fatih Akin, oder "Toni Erdmann" mit Sandra Hüller international erfolgreich waren? Ja, die gezeigten (echten!) Oscars beweisen es, die "Im Westen nichts Neues" von Edward Berger als bester internationaler Film in L.A. abgeräumt hat.
Mario Scalla fühlte sich 20 Jahre jünger, als er aus der Ausstellung im Deutschen Filmmuseum in Frankfurt kam||
"Evakuieren Sie die Erde jetzt!" Wer die Oper "Defekt" mit Musik von Mithatcan Öcal am Staatstheater Kassel besucht, wird schon beim Hinsetzen auf großen Bildschirmen auf das Thema eingestimmt. Doch wer dann düstere Untergangsstimmung erwartet, wird angenehm enttäuscht. Die Musik von Mithatcan Öcal ist harmonisch, die Protagonisten erheitern in ihrer Tolpatschigkeit. Und ist nicht gerade das ein Sinnbild für unsere heutige Lage? Wir steuern auf die große Katastrophe zu, haben keinen Planeten B zur Verfügung, und haben es uns doch im Untergang ganz lauschig eingerichtet.
Vera John überlegt, sogar ein zweites Mal die Oper "Defekt" am Staatstheater Kassel zu besuchen.||
Fromental Halévys Grand Opéra "La Juive" in der Premiere an der Oper Frankfurt: Das Stück spielt vor dem Hintergrund des Konzils von Konstanz 1414 – dort sollte die Einheit der Kirche wiederhergestellt werden. Rachel ist die Tochter des jüdischen Goldschmieds Eleazar, hat sich in einen Mann verliebt (der nur vorgibt, Jude zu sein), hat ein Verhältnis mit ihm (er heißt in Wirklichkeit Leopold, ist christlicher Reichsfürst und mit der Nichte des Kaisers verheiratet...). Das findet sie heraus und klagt Leopold als Verführer an – und als Christen, der sich mit einer Jüdin eingelassen hat. Eleazar, Rachel und Leopold werden zum Tode verurteilt. Und dieser Spirale aus Rache, Hass, Antisemitismus und Liebe versuchen sich die drei zu entkommen. Erschreckend aktuell – eine gespaltene Gesellschaft auf der Suche nach einem gemeinsamen Feind.
Bastian Korff hat es mitgerissen: Handlung, Regie, Stimmen - alles passt an der Oper Frankfurt!||
Am Rheinufer in Mainz-Kastel, also auf der hessischen Seite, gastiert bis 7. Juli der Cinque Bouffon - an der Reduit, ehemaligen Kasernen, die umgenutzt wurden: Mit einem außergewöhnlichen Programm, ausgezeichneten Akrobaten, Live-Musik, einem Zirkusdirektor in vielen Rollen - eine ausgefeilte Dramaturgie wird geboten, die Witz, körperliches Können und Poesie vereint. Ganz im Stille des französischen Nouveau Cirque, etwa dem "Soleil". Dass man gar nicht so viel Manpower und Ausstattung wie das große Vorbild braucht, hat dieser Zirkus unter Beweis gestellt. Bravo!
Ursula Mai hat den rasanten Abend in Mainz-Kastel genossen||
"Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne". Ein kleines Wunder ist geschehen, dass Saša Stanišić diesen Buchtitel bei seinem Verlag durchgesetzt hat; und man kann ihm nur wünschen, dass er seine Buchverkäufe nicht behindert. Der Autor trat bei einer Lesung seines neuen Erzählbandes im Schauspiel Frankfurt auf, und das Theater war für ihn die passende Bühne. Denn Stanišić liest im Gehen, passt seinen geschriebenen Text der gesprochenen Sprache an und lässt geschickt immer wieder offen, wie die Geschichte ausgehen mag. Das Publikum fühlte sich jedenfalls gut unterhalten.
Mario Scalla erlebte bei der Lesung von Saša Stanišić im Schauspiel Frankfurt ein Ein-Mann-Theater mit Autor.||
Roohollah Zam ist "Der Sohn des Mullahs" in dem gleichnamigen Film. Als solcher hätte er ein bequemes Leben haben können im Iran. Doch er entschied sich, ins Exil nach Frankreich zu gehen, gründete dort einen Nachrichtensender, der die Korruption in der Heimat anprangert. Die schwedisch-iranische Regisseurin Nahid Persson Sarvestani hat seit 2019 sein Leben begleitet. Entstanden ist ein Dokumentarfilm mit Thrillerqualitäten. Denn den Sicherheitsbehörden gelingt es zwar, Roohollah Zam in Frankreich zu schützen, aber als Agenten des Irans sein Vertrauen gewinnen, wird er in eine Falle gelockt und in den Iran entführt.
Daniella Baumeister staunt beim Betrachten von "Der Sohn des Mullahs" darüber, wie Menschen immer wieder Mut fassen, sich gegen ein übermächtiges Regime zu stellen.||
Anthony McCarten, Meister der psychologischen Beschreibung von Berühmtheiten, hat neben Stephan Hawking, Winston Churchill und Freddy Mercury auch die zwei Päpste Benedikt und Franziskus in einer privaten Unterhaltung zusammengebracht. Und doch kann das Stück nicht verhehlen, dass die großen Erwartungen, die in den Kirchenkritiker Bergoglio gelegt wurden, sich in keinem Punkt erfüllt haben.
Ulrich Sonnenschein konnte in "The two popes" im English Theatre Frankfurt zwei unterschiedliche Charaktere beobachten.||
Das Staatstheater Darmstadt nutzt im Sommer seine Dachterrasse als Spielstätte, so jetzt für "Herr Fuchs oder einfach: Volpone". Die Komödie von Shakespeares Zeitgenossen Ben Jonson wirkt in der Bearbeitung von Stefan Zweig noch heute frisch. Herr Fuchs hat das Sterben zum Geschäftsmodell entwickelt. Auf die Nachricht von seiner tödlichen Krankheit versammeln sich die Erbschleicher, die ihn mit Geschenken geneigt machen wollen. Womit Herr Fuchs allerdings nicht gerechnet hat, ist, dass auch sein Diener am Erbe interessiert sein könnte. Die Laienschauspieler der "Hessischen Spielgemeinschaft 1925 e.V." entwickeln eine mitreißende Spielfreude, und wenn das Wetter mitspielt, ist ein vergnüglicher Sommerabend garantiert.
Ursula May ließ sich auf der Dachterrasse des Staatstheaters Darmstadt bei "Volpone" die Sonne auf die Nase scheinen.||
Die Frankfurter Ausstellungshalle Portikus präsentiert den aufstrebenden Künstler Tarik Kiswanson mit dem Skulpturenprojekt "A Century". Tarik Kiswanson ist Palästinenser, in Schweden aufgewachsen, hat in London studiert und lebt in Paris. Über Entwurzelung hat er also Einiges zu erzählen. Die Objekte, aus denen seine Skulpturen zusammengesetzt sind, wirken auf den ersten Blick unscheinbar. Da ist zum Beispiel die Tintenwolke aus einem Füllfederhalter wie ihn Churchill benutzt hat, um 1922 das Mandat für Palästina zu unterzeichnen. Im Zusammenspiel mit den Ausstellungstexten entwickeln die Skulpturen ihre Wirkung und vermitteln, wie ein Mensch palästinensischer Herkunft das letzte Jahrhundert begreift.
Mario Scalla empfiehlt unbedingt das Studium des Begleithefts zu "A Century" von Tarik Kiswanson im Frankfurter Portikus.||
Die Künstler Andre "Polo" Poloczek und Hans Traxler, letzterer jüngst 95 Jahre alt geworden und Mitglied der ersten Generation der Neuen Frankfurter Schule, sind die aktuellen Helden der Frankfurter Caricatura. Es gibt viele schöne Entdeckungen in dieser großartigen Doppelschau.
Mario Scalla erzählt in seiner Frühkritik Bilderwitze, das gab's noch nie!||
Als Pädagogin ist Clara Schumann in der Frankfurter Musikszene eine prägende Figur gewesen. Ab 1878 hat sie als "Erste Klavierlehrerin" am neu gegründeten Hoch‘schen Konservatorium unterrichtet. Um Frankfurt ging es im Holzhausenschlösschen in Frankfurt. Die Musikwissenschaftlerin Ulrike Kienzle hat über ihre Forschungsprojekte berichtet, selbst ist sie unverzichtbarer Teil des Frankfurter Musiklebens. Wer sich für das interessiert, kommt an ihr nicht vorbei. Ihr geht es nicht nur um "ihre" Clara, sondern auch um jüdisches Musikleben, um die Stadt Frankfurt als wichtigen Umschlagplatz für Noten, um die Frankfurter Ratsmusiken der Renaissancezeit, um Georg Philipp Telemann, den städtischen Musikdirektor. Das Ganze erzählt sie nicht strikt chronologisch, Ulrike Kienzle assoziiert frei, schlägt Brücken über Jahrhunderte. Faszinierend, wie sie Dinge miteinander in Verbindung bringen und einordnen kann. Sie steckt mit ihrer Begeisterung und ihrem Wissen an!
Meinolf Bunsmann bewunderte die profunde Kenntnis der Musikwissenschaftlerin||
Die Vermögen in Deutschland sind nicht gerecht verteilt. 400 Milliarden Euro werden jährlich vererbt, gleichzeitig sind 22 Prozent der Kinder von Armut betroffen. Über eine Umverteilung hat die Theatermacherin Nora Abdel-Maksoud nachgedacht und eine Komödie über eine Erbschaftsreform geschrieben: "Jeeps". Nach der Premiere am Staatstheater Darmstadt ist unsere Kritikerin so schlau als wie zuvor: Eine ziemlich aufgekratzte Choreografie, eine Spielhaltung, die sich kaum steigert, obwohl sich die Handlung gravierend zuspitzt - das hat dramaturgisch nicht funktioniert. Dennoch gab es großen Applaus am Ende - für diesen sprachverspielten, wildenText.
Esther Boldt hat im Staatstheater Darmstadt nicht das große Los gezogen||
Zwei Argentinier suchen auf dem Weg nach und durch Osteuropa nach kulturellen Spuren ihrer eigenen Identität, was viel mit Musik zu tun hat und mit vielem mehr, was die beiden erst im Lauf der Dreharbeiten und Recherchen erfahren beziehungsweise verstehen. Ein ungewöhnlicher, zunächst verwirrender, dann anrührender Film! Und wer viel Klezmer-Musik erwartetet hatte, wird vielleicht enttäuscht, aber entschädigt...
Daniella Baumeister war über den Berlinale-Preisträger-Film postiv überrascht||
Einen persiflierenden Operetten-Einakter komponierte Franz Lehar als Reaktion auf den Riesenerfolg seiner eigenen "Lustigen Witwe". Furios das Spiel am Stadttheater, witzig, überzeichnet, albern bis in kleine Gesten hinein auf den Punkt - gekonnt inszeniert von Johanna Arrouas. Das Ganze hautnah auf der Bühne im Kleinen Haus, die T-Förmig ins Publikum hineingezogen wurde, leicht und spielerisch - insgesamt ein vergnüglicher Abend, der längst nicht so harmlos ist, wie es auf den ersten Blick scheint...
Imke Turner fragte sich vorher, ob man so ein Stück heute noch spielen kann. Ihre Antwort: Ja, so!||
Das Hessische Staatsballett führt ein Stück mit dem schlichten Titel "Kafka" urauf. Die beiden Italiener Mattia Russo und Antonio de Rosa wollen ihn ins Heute übertragen - indes hat das Stück wirklich sehr wenig mit Kafka zu tun. An einer nächtlichen Tankstelle werden, so interpretiert unsere Kritikerin das, die Reste unserer Zivilisation aufgeführt, im Nebel treffen sehr heutig wirkende Menschen auf Traum- und Alptraumgestalten. Die beiden Choreografen machen das eindrucksvoll, dieses Tanztheater changiert zwischen Irritation und Kitsch, ist einerseits dekorativ, aber auf Ebene von Licht und Ton immer auch strapaziös. Also: ganz spannend!
Esther Boldts Blick war viel freier, als sie aufgehört hat in diesem Stück des Hessischen Staatstheaters Kafka zu suchen||
Das Requiem von Giuseppe Verdi war im Museumskonzert in der Alten Oper Frankfurt zu erleben. Eine gewaltige Totenmesse, der die kurze Komposition "Ein Überlebender aus Warschau" von Arnold Schönberg vorausging - Teil des zweitägigen Festivals "Mitten am Rand", das noch bis Dienstag (28.5.) läuft. Ein beeindruckendes Konzert, das begeisterte Publikum nimmt als letzte Botschaft Verdis die Bitte mit: Libera me, Befreie mich! Und diese Bitte um Befreiung, um Freiheit, ist gerade auf der Welt so aktuell, dass man sie auch völllig losgelöst von jedem religiösen Kontext äußern kann.
Meinolf Bunsmann über ein denkwürdiges Konzert in der Alten Oper Frankfurt||
Mascha Kaléko war Dichterin der Neuen Sachlichkeit, die als jüdische Autorin von den Nazis verboten wurde, in die USA fliehen musste - und nach dem Krieg hierzulande wieder ein Publikum gefunden hat. Ihre Gedichte schweben zwischen Zärtlichkeit, Ironie und Melancholie, die Sängerin Dota Kehr hat sie vertont – und unter anderen im Staatstheater Darmstadt gesungen. Sie geht ganz unbefangen-charmant an die Lieder und Texte heran, holt die Menschen ganz nah an sich heran, manchmal blitzt die ehemalige Straßenmusikerin in ihr auf, was noch für mehr Bindung zum Publikum sorgt, sie animiert zum Mitsingen – Dota Kehr und ihre Band hatten sichtlich Spaß, das Publikum hat gejauchzt.
Bastian Korff liebt den unkomplizierten Umgang mit den Texten der Kaléko||
Es ist kein Vergnügen, ihrer Zeit voraus zu sein, wie die österreichische Künstlerin Maria Lassnig. Die Regisseurin Anja Salomonowitz hat ihr den Film "Mit einem Tiger schlafen" gewidmet. Maria Lassnig wurde früh gefördert, stieß dann aber auf dem Kunstmarkt auf Unverständnis, weil sie sich den herrschenden Moden nicht fügen wollte. Birgit Minichmayr spielt Maria Lassnig in sämtlichen Lebensphasen. Der Film ist vor allem eine Studie darüber, woher Maria Lassnig ihre Bilderwelten geschöpft hat.
Mario Scalla lobt die schauspielerische Leistung Birgit Minchmayrs in "Mit einem Tiger schlafen".||
Das Kunstmuseum Marburg präsentiert eine Weltkarte der Künstlerin Julia Krause-Harder als Flickenteppich. Schließlich gibt es keine geographisch korrekte Abbildung der Erdkugel in zwei Dimensionen, da kann man sich genauso gut eine eigene Weltkarte basteln. Julia Krause-Harder hat drei Jahre ihres Lebens an der Nähmaschine verbracht, um die Länder dieser Welt in Stoff zu übertragen. Über Großbritannien hat sie zum Beispiel fünf Gitarrensaiten gespannt, und verweist damit auf die Pop-Geschichte dieses Landes. So wird jedes Land durch eine Besonderheit repräsentiert, was die Betrachtung zu einem großen Vergnügen macht.
Stefanie Blumenbecker wäre bei der Betrachtung der Weltkarte von Julia Krause-Harder im Kunstmuseum Marburg beinahe über Indonesien gestolpert.||
Wenn es keinen Gott gibt, ist dann alles erlaubt? Das ist die Frage, die Dostojewski in "Die Brüder Karamasow" umtreibt. Am Schauspiel Frankfurt sind die Brüder allesamt Schauspielerinnen, aber das ist eher unwichtig, denn in dem Stück geht es nicht um die Geschlechterfrage. Die Schauspielerinnen spielen hervorragend, das Bühnenbild ist grandios, und doch bleibt ein zwiespältiger Eindruck zurück. Nicht umsonst ist der Roman so lang wie er ist, und dieses Textgebirge auf theatergängige drei Stunden zu kürzen, nimmt ihm viel von seiner Wirkung.
Ursula May nahm die Inszenierung von "Die Brüder Karamasow" am Schauspiel Frankfurt vor allem als Anregung, sich den Roman noch einmal vorzunehmen.||
Das Kunsthaus Wiesbaden präsentiert das Spätwerk Otto Ritschls. Otto Ritschl? Der Maler - Jahrgang 1885 - war immer eher unter Kollegen berühmt, als im breiten Publikum. Ab 1908 lebte er in Wiesbaden. Während der Weimarer Republik machte er alle Kunstströmungen mit, ging dann - als "entartet" gebrandmarkt - während des Nationalsozialismus in die innnere Emigration. Nach der Befreiung explodierte seine Kreativität. Ritschl malte nur noch abstrakt und nur noch für sich selbst. Seine Bilder waren ausdrücklich nicht zum Verkauf bestimmt. In über 900 Werken erforschte er die Wirkung von aufeinander stoßenden Farbräumen, am ehesten noch mit den Farbfeldern von Mark Rothko vergleichbar. In Wiesbaden lässt sich anhand von 40 Gemälden zumindest eine Ahnung von dem Farbenrausch erhaschen.
Mario Scalla ließ sich von der Farbforschung Otto Ritschls im Kunsthaus Wiesbaden beeindrucken.||
Haben Sie sich auch schon gefragt, warum es so wenige Dirigentinnen von Weltruf gibt? Dann ist der Film "Momentum" vielleicht was für Sie: Joana Mallwitz ist eine der wenigen. Eine Frau voller Leidenschaft, Musik und Leben. Und der Film "Momentum" gibt auch einige Antworten auf die Eingangsfrage, die so einfach nicht zu finden sind.
Daniella Baumeister liebt den Slogan "Gänsehaut kennt keine Grenzen" und fand ihn im Film "Momentum" von Günter Atteln wieder||
Anlässlich der diesjährigen Europameisterschaft gehen eine Vielzahl von Künstlerinnen und Künstlern auf Spurensuche, auch die Gruppe La Fleur. In ihrem Stück "Konami - Ein Fußballtanz", das am Frankfurter Künstlerhaus Mousonturm gezeigt wurde, sucht die Truppe um Monika Gintersdorfer, die an der Elfenbeinküste verortet ist, Verbindungslinien zwischen Fußball und Popkultur.
Esther Boldt fand es gut, dass im Frankfurter Mousonturm ganz beiläufig die Vielstimmigkeit von Sprachen und Kulturen zum Ausdruck kam.||
Das Ensemble Modern spielte Musik des Eisler-Zeitgenossen Erwin Schulhoff - an einem ganz besonderen Ort, im Museum Judengasse in Frankfurt. Die Initiatoren: Zwei Freundeskreise, der des Ensembles Modern und der des Jüdischen Museums. Und es traf die junge auf die schon älteren Generationen: Schülerinnen und Schüler der Frankfurter Wöhlerschule haben das Konzert moderiert. Ohren auf für neun Musikerinnen und Musiker des Ensembles Modern, für kluge Moderationen und für den Sänger Harald Hyronymus Hein, der so gesungen hat, dass es einem unter die Haut ging.
Meinolf Bunsmann erlebte das Ensemble Modern und gut vorbereitete Wöhlerschüler in einem wichtigen Konzert||
Seit Freitag geht es wieder ein wenig märchenhafter zu in Hanau: Die Brüder-Grimm-Festspiele haben Premiere gefeiert - mit dem Musical-Märchen "Die Gänsemagd", für das ein eher unbekanntes Märchen Pate gestanden hat. Eine Prinzessin soll verheiratet werden – und wird mit einer Magd und dem sprechenden Pferd Falada auf den Weg geschickt zum Prinzen. Ein unaufgeregter Abend, der ein bisschen schneller oder kürzer erzählt werden könnte – für Familien lohnt sich das auf jeden Fall!
Bastian Korff wollte sich bei den Brüder-Grimm-Festspielen köstlich amüsieren, indes...||
Heute reisen wir wie selbstverständlich um die halbe Welt, machen dabei Fotos zu Hunderten und verschicken die an alle, die es interessiert oder auch nicht. Vor gerade mal 60, 70 Jahren war das völlig anders: Weite Reisen war mitunter strapaziös, manche Länder waren tabu und Fotografieren war mühsam und kostspielig. Aber es gab Pioniere des Reisens und der Reportage - und das Kulturforum der TU Darmstadt und das Weltkulturen-Museum Frankfurt stellen uns zur Zeit Im Rahmen des RAY-Fotografie-Festivals das Werk der Milli Bau vor.
Alf Haubitz war im Kunstforum der TU Darmstadt vom Mut und der modernen Fotografie beeindruckt, vermisste aber die ganz große Präsentation||
Heidi Specogna hat ihren Dokumentarfilm "Die Vision der Claudia Andujar" einer bemerkenswerten Fotografin gewidmet. Diese Schweizerin hat ihre Lebensaufgabe im brasilianischen Urwald bei den Yanomami gefunden. Noch heute ist sie dankbar dafür, dass die Yanomami - die von weißen Menschen eigentlich nur verfolgt worden sind - ihr Vertrauen geschenkt haben. Claudia Andujar revanchierte sich dafür durch einzigartige Fotos, die die Yanomami in die großen Illustrierten dieser Welt brachten - ein Ärgernis für die damalige brasilianische Militärdiktatur.
Daniella Baumeister über den großartigen Film "Die Vision der Claudia Andujar", der in seinen besten Teilen nur aus Fotos besteht.||
Hohe Kunst und Kinderspielzeug, das passt nicht zusammen! Oder doch? Die Kasseler Gemäldegalerie im Schloss Wilhelmshöhe hat den Dioramenkünstler Oliver Schaffer eingeladen, ihre Sammlung mit Szenen aus Playmobil-Figuren zu kommentieren. Dreißig kleine und große Tableaus sind entstanden. Sie übersetzen die Bilder der Alten Meister nicht nur für Kinderaugen.
Stefanie Blumenbecker hat auf der Kasseler Wilhelmshöhe schon viel gesehen, aber das noch nicht||
Wem die 600 Seiten von Michel Houellebecqs letztem Roman "Vernichten" zu viel waren, dem bietet das Staatstheater Wiesbaden eine kompromierte Fassung auf der Bühne. Houellebecq knüpft sich in "Vernichten" das dysfunktionale französische Gesundheitssystem vor. Die Hauptfigur Paul Raison erhält eine Krebsdiagnose, sein alter Vater steckt in einer medizinischen Verwahranstalt fest. Die Politik spielt herein, weil Raison auch Berater des Wirtschaftsministers ist. Bei der Premiere spielte dann sogar das Wetter mit, weil es auf die Bühne regnete. Was man anfangs für einen gelungenen Regie-Einfall halten konnte, stellte sich als undichtes Dach bei einem Gewitter heraus.
Mario Scalla über eine gelungene Inszenierung von Michel Houellebecqs "Vernichten" am Staatstheater Wiesbaden, bei der selbst das Wetter mitspielte.||
"Tutto nel mondo è burla" – das ganze Leben ist ein Spaß! Die Schlussfuge aus Giuseppe Verdis Oper letzter Oper symbolisiert in Kürze das Motto dieser Aufführung: Was kümmert uns das Durcheinander um den vergangenen Intendanten, jetzt wird befreit losgelegt! Von den Strapazen hat man nichts gemerkt, der rote Teppich vorm Theater war ausgerollt. Alles in allem sollte man diese geniale, ganz ungewöhnliche Partitur des 80-jährigen Verdi unbedingt erleben. Es lohnt sich!
Meinolf Bunsmann hat im Parkett des Staatstheaters einen fulminanten Auftakt der Maifestspiele erlebt||
"Annette" von Anne Weber am Staatstheater Darmstadt erzählt die Geschichte von Anne Beaumanoir. Die ist in Frankreich Schulstoff; in Deutschland ist sie erst bekannt geworden, seitdem Anne Weber für ihren Roman "Annette, ein Heldinnenepos" den Deutschen Buchpreis erhalten hat. Anne Beaumanoir hat während des Zweiten Weltkriegs für die Résistance gearbeitet. Nach dem Krieg setzte sie sich für die algerische Unabhängigkeit ein, weswegen sie der französische Staat zu zehn Jahren Gefängnis verurteilte. Sie flieht ins Exil um den Preis, ihre drei Kinder nicht aufwachsen sehen zu dürfen. Weber hat ihren Roman in Versen verfasst, was ihn für eine Theateraufführung prädestiniert.
Esther Boldt sah mit "Annette, ein Heldinnenepos" am Staatstheater Darmstadt ein Leben, das man nicht glauben würde, wenn es erfunden wäre.||
Wenn Sie auch schon mal an einem "heißen Tisch" im japanischen Restaurant gesessen haben oder an der Sushi-Theke, wo Sie den Köchen auf die Finger schauen konnten - und ihre Fertigkeit und Hingabe bewundern, haben Sie vermutlich auch schon sehr gestaunt. Das ist aber japanischer Alltag, den man im Kino auf die Spitze treiben kann. Wenn nämlich das ganze zu einer ganz eigenen Kunst erhoben wird wie im Film "Das Streben nach Perfektion".
Daniella Baumeister ist nach dem Film erst recht Freundin der Kunst des Essenszubereitung||
Dieser sehr konsistente, inspirierende und kraftvolle Doppelabend lässt uns zwei unterschiedliche künstlerische Handschriften kennenlernen. Der einerseits vieles aufgreift, das uns gerade umtreibt - was hält uns als Menschen zusammen, und in welche Beziehung setzen wir uns zu dieser gebauten und gewachsenen Welt? - und eröffnet andererseits immer Assoziationsräume, die weit über konkrete Fragestellungen hinausgehen.
Esther Boldt war fasziniert von zwei neuen Choreografien für die Dresden Frankfurt Dance Company im Bockenheimer Depot||
Mit Spannung erwartet worden ist die Neuinszenierung des südafrikanischen Regisseurs Matthew Wild von Wagners "Sängerkrieg auf Wartburg": Ihm gelingt das Kunststück, eine ganz andere Geschichte zu erzählen, ganz viel dazuzuerfinden - und trotzdem plausibel zu bleiben, so dass man auch dem ursprünglichen Stoff noch folgen kann. Er holt den Tannhäuser aus der Heternormativität heraus, versetzt Heinricht von Ofterdingen, den mittelalterlichen Autor des Tannhäuser-Stoffs, ins 20. Jahrhundert.
Der Konflikt: Darf ich in Sünde leben oder muss ich mich den herrschenden Normen der Gellschaft anpassen? Das ist hier die Frage: Darf ich ein Leben außerhalb der heterosexuellen "Normalität" führen?
Auf das Dirigat von Thomas Guggeis, den neuen Generalmusikdirektor, ist man nach Opern von Mozart, Verdi und Ligeti sehr gespannt gewesen. Er bringt diesen Wagner großartig, fein und differenziert, geradezu kammermusikalisch teilweise, dann groß und grandios, ein wunderbares Orchester, sehr präzise auch Chor und Extrachor in sehr sängerfreundlichen Bühnenbildern.
Christina Nielsson gibt eine darstellerisch wie stimmlich berührende Elisabeth, Dshamilja Kaiser eine warmstimmige, verführende Todesvenus, Marco Jentsch einen zunächst etwas verklemmten , im dritten Akt darstellerisch sehr verzweiflelten Tannhäuser, also Heinrich. Stimmlich fiel er im Volumen und in der Wärme etwas zurück hinter Domen Križaj als unglaublich sensibler Wolfram von Eschenbach und Andreas Bauer Kanabas als Landgraf Hermann mit großem profunden Klang und der besten Diktion.
Kurz und sehr gut: Insgesamt eine Vorstellung, die musikalisch wie inszenatorisch wirklich berührt und beglückt hat.
Meinolf Bunsmann war in der Oper Frankfurt erst konzentriert, immer wieder begeistert und am Ende restlos überzeugt||