Traditionell lädt die Frankfurter Nationalbibliothek zur Auftaktveranstaltung von "Frankfurt liest ein Buch" ein, erstmals fiel die Wahl auf eine Neuerscheinung, Florian Wackers Roman "Zebras im Schnee" (Berlin Verlag). Ein Buch über zwei junge, neugierige Frauen, die allerlei Personen treffen, die in der Kunstszene und für das Neue Frankfurt wichtig waren. Der Clou an diesem Abend war, dass heutige passende Prominente Passagen aus dem Buch lasen: Manfred Niekisch, ehemaliger Frankfurter Zoodirektor, über die Nashörner im damaligen Tiergarten; der Architekt Christoph Mäckler mit sichtlichem Vergnügen über das umstrittene Flachdach; Kunstvereins-Chefin Franziska Nori über die Künstlerin und Frauenrechtlerin Ottilie Röderstein. Der natürlich anwesende Autor des Buchs machte der Stadt im Damals und im Heute das Kompliment, dass sie sehr viel erzählfähiger sei als andere, hier seien Kontraste stärker als woanders: Uralt und ganz neu, provinziell und großstädtisch - und modern. Diese Frische, diesen Elan der Zeit, hat Florian Wacker im Roman eingefangen, insofern kein Wunder, dass er dieses Jahr ausgewählt wurde.
Mario Scalla empfiehlt das Buch und das Lesefestival, auch um Einblicke in die Stadtentwicklung zu bekommen||
Rainer Werner Fassbinder hat 1979 mit "Die Ehe der Maria Braun" einen Film geschaffen, der sich zum Klassiker auf deutschen Theaterbühnen entwickelt hat - so auch jetzt am Schauspiel Frankfurt. Maria heiratet 1943 in einer Kriegstrauung Hermann Braun. Die beiden verbringen eine Nacht miteinander, bevor Hermann wieder an die Front muss. Maria beißt sich alleine durch, weiß sehr genau, was sie will, verfolgt aber gleichzeitig den romantischen Traum einer Ehe mit Hermann, von dem sie nicht mal weiß, ob er überlebt hat. Manja Kuhl besitzt als "Maria" auf der Bühne eine große Präsenz; weniger glücklich ist die Entscheidung der Regie, die anderen Figuren buchstäblich in den Hintergrund zu drängen.
Esther Boldt fand die Figur der "Maria" in "Die Ehe der Maria Braun" am Schauspiel Frankfurt überzeugend, einige Regie-Entscheidungen dagegen weniger.||
Manhattans Upper West Side. Greg ist ein einsamer Familienvater mittleren Alters, der mit seinem Job unzufrieden ist und sich zunehmend von seiner karriereorientierten Frau entfernt. Eines Tages bringt er einen Hund mit nach Hause, den er im Park gefunden hat – oder der ihn gefunden hat – und der nur den Namen „Sylvia“ auf seinem Namensschild trägt. Sie verspricht, Gregs Leben mit all den Dingen zu füllen, die er vermisst: Spaß, Energie und vor allem angebetet zu werden. Doch als Greg zunehmend von der Beziehung zu Sylvia besessen ist, muss er sich mit den unerwarteten Konsequenzen auseinandersetzen, die ihre Anwesenheit auf seine langjährige Ehe hat. Sylvia ist eine intelligente, alberne, raffinierte und gelegentlich bissige Komödie über Beziehungen, die Natur und das Älterwerden. Mit einer grandiosen Darstellerin Louisa Beadel in einer Rolle zwischen Hund und Mensch.
Ulrich Sonnenschein konnte sich mit der Hunde-Darstellerin und dem Ausweich-Spielort des English Theatres im Zoo-Gesellschaftshaus sehr anfreunden||
In der japanischen Kultur ist die Grenze zwischen menschlicher Welt und Natur nicht so scharf gezogen wie bei uns im Westen. Und deswegen kann ein Film wie "Evil does not exist" von Ryusuke Hamagushi eigentlich nur aus Japan kommen. Hier gibt es keine Knalleffekte, keine Schreie oder wilde Schnitte. Hamagushi führt in eine wunderschöne Landschaft, die Investoren in einen Luxus-Campingplatz verwandeln wollen. Doch die Anwohner beginnen sich zu wehren, und dem scheint sich die Natur selbst anzuschließen. Ein verstörender Film, der beweist, dass Horror nicht laut sein muss.
Ulrich Sonnenschein fragte sich am Ende von "Evil does not exist" von Ryusuke Hamagushi, was er nun eigentlich gesehen hatte.||
Früher war alles besser. Oder? Autor und Regisseur Bonn Park ist dem Phänomen auf die Spur, dass Menschen das Gute gern in der Vergangenheit verorten, während das Schlechte die Gegenwart zu prägen scheint und auch die Zukunft misstrauisch beäugt wird. "They Them Okocha" heißt sein Stück. Der Eintracht-Fußballer, "Jay-Jay", hatte auf legendäre Weise 1993 Oliver Kahn und mehrere Verteidiger des FC Bayern mit tänzerischer Leichtigkeit ausgedribbelt. Lange her - und eine Steilvorlage: Vier Menschen auf Zeitreise in die eigene Kindheit und Jugend, sie wollen dem unwiderruflich vergangenen Kindheitsglück auf Spur kommen. Herauskommt große Komik und ein Wiedererkennungswert mit Gänsehaut - beeindruckend, dass die politische Dimension scheinbar harmlos und unterhaltsam daherkommenden Stückes gar nicht explizit benannt werden muss, sondern implizit immer schon vorhanden ist. Spannend und gut!
Esther Boldt war im Frankfurter Kammerspiel von Idee, Stück und Spielern angetan||
"There is no there there" (Es gibt kein dort dort). Gertrude Steins Zitat ist der Titel der neuen Ausstellung des MMK in Frankfurt. Das Haus widmet sich einem Phänomen, das bisher von der Kunstwissenschaft weitgehend übersehen wurde: Welche Spuren haben die zahlreichen Künstlerinnen und Künstler, die als Einwanderer nach Deutschland kamen, in der Kunstwelt hinterlassen? Zu sehen sind Arbeiten von Künstlern, die bis in die 1980-Jahre hinein nach Deutschland kamen. Manche als Gastarbeiter, aus Italien, Spanien oder der Türkei. Andere als Flüchtlinge, z.B. Menschen aus dem Iran oder aus Chile. Manche als ausländische Werktätige, die von ihren Heimatländern in die DDR "ausgeliehen" wurden. Großartige Kunst, darunter Portraits und Familienbilder, die das Leben der "Gastarbeiter" in Deutschland. Aber es wäre schön gewesen, nicht nur die Kunst selbst ernst zu nehmen, sondern auch die Frage, wie man sie in einer Ausstellung präsentiert. Und vielleicht wäre auch einmal weniger etwas mehr...
Stefanie Blumenbecker ist im MMK Frankfurt von den (zu) vielen Exponaten fasziniert, vermisst aber sehr die ausführliche Einordnung oder gar einen richtigen Katalog||
Am Staatstheater Wiesbaden hatte Puccinis letzte Oper "Turandot" am Samstag Premiere. Puccini hat sein Werk nicht abgeschlossen, wahrscheinlich weil er kein schlüssiges Ende gefunden hat, wie man vermuten darf. Ein "Happy End" bei dem eine Sklavin Selbstmord begeht, kann wohl nicht als solches durchgehen. Nach Puccini haben Kollegen drei verschiedene Enden komponiert, aber am Staatstheater Wiesbaden greift Daniela Kerck auf keine dieser Lösungen zurück. Sie hat ein neues Ende für "Turandot" entworfen - mit Musik von Puccini; mehr soll hier nicht verraten werden. Orchester und Sänger waren glänzend aufgelegt, und das Publikum revanchierte sich mit lang anhaltendem Applaus.
Meinolf Bunsmann fand die Lösung des Staatstheaters Wiesbaden, wie Puccinis "Turandot" abzuschließen sei, überzeugend.||
Das Frauenmuseum Wiesbaden zeigt immer wieder Arbeiten von international aufsehenerregenden Künstlerinnen, die es in Deutschland erst noch zu entdecken gilt. So präsentiert die ukrainische Künstlerin Dana Kavelina eine ihrer spektakulären Videoarbeiten, einen Animationsfilm: Es ist eine Filmerzählung, bei der es um Liebe, Blumen und die Kraft des Herzens geht. Mit alten Spitzendeckchen, Glasperlen, kleinen Spielzeugfiguren, Silberfolie und einem Füllfederhalter erzählt Dana Kavelina die große Tragik des Krieges wie in einem Märchen.
Fantastische Singschauspieler, ein introvertiert singender Lawrence Zazzo als Cäsar, eine mondäne Pretty Yende als Cleopatra: die Oper Frankfurt landet mit Nadja Loschkys Neuproduktion von Georg Friedrich Händels Oper "Giulio Cesare in Egitto" einen Coup, den man sich nicht entgehen lassen darf. Hochgespannte, wechselnde und intensive Stimmungen in einem 300 Jahre alten true-crime-Spektakel über vier Stunden: Unbedingt Hingehen!
Natascha Pflaumbaum hat neben den musikalischen Höchstleistungen in Frankfurt sehr viele Hinweise und Andeutungen entdeckt||
Ein Film mit Josef Hader und Birgit Minichmayr kann nicht langweilig sein - sollte man denken. Was aber, wenn Josef Hader, der in "Andrea lässt sich scheiden" auch Regisseur ist, es geradezu darauf anlegt, das Gefühl der Langeweile zu erzeugen? Langeweile ist schließlich die Grundstimmung in Niederösterreich, wo Polizistin Andrea (Birgit Minichmayr) ihren Dienst versieht. Dann aber überfährt sie aus Versehen ihren Mann, von dem sie sich eh scheiden lassen wollte. Kurz darauf überfährt auch der trockene Alkoholiker Franz (Josef Hader) die Leiche, hält sich für den Täter, und beginnt wieder zu trinken. Wie kann Andrea Franz davon überzeugen, dass er schuldlos war, ohne ihre eigene Beteiligung einzugestehen? In Österreich schrieben zahlreiche Kritiker, dies sei ein langweiliger Film, und das ist ausnahmsweise als Kompliment zu verstehen.
Ulrich Sonnenschein staunte, wie Josef Hader mit "Andrea lässt sich scheiden" einen langweiligen Film drehte, dem man gerne zuschaut. ||
Witzig, nachdenklich und unterhaltsam. Diese Inszenierung am Staatstheater Darmstadt lohnt sich. Zu den diversen Liebegeschichten im Urlaubsidyll am Wolfgangsee des Singspiels aus dem Jahr 1930 von Ralph Benatzkys gehören Hits wie "Was kann der Sigismund dafür, dass er so schön ist?" oder "Es muss was wunderbares sein von Dir geliebt zu werden!" Dirigent Michael Nündel hat diesen Operrettenabend mit seinen Arrangement ordentlich entstaubt - und zeigt mit einemgroßartigen Ensemble wie das "Weisse Rössl" über einen Peter-Alexander-Schmäh hinaus auch heute noch begeistern kann.
Susanne Pütz erlebte einen rundum stimmigen Abend mit dem Klassiker am Staatstheater - im Stil eines Broadway-Musicals||
Der berühmte Satz - den Gorbatschow so nie gesagt hat -, passt auf Pjotr Tschaikowskis "Eugen Onegin". Die Oper bringt das Stadttheater Gießen mit großem Chor und großem Orchester an die Grenzen seiner Möglichkeiten - und endet in einem Triumph, der mit stehendem Applaus belohnt wird. Als Tatjana zum ersten Mal Eugen Onegin begegnet, verliebt sie sich sofort. Nur der kann mit ihrer Liebe nichts anfangen. Jahre später begegnen sie einander erneut, und diesmal verliebt sich Onegin in Tatjana. Nur die ist jetzt verheiratet und steht zu ihrer Ehe. Gesungen wird in russischer Sprache, und Tschaikowski liefert die überwältigende Musik für die ganz großen Gefühle.
Christiane Hillebrand findet, man solle die Oper "Eugen Onegin" in "Tatjana" umbenennen.||
"Kleine schmutzige Briefe" verspricht schon der Titel, den dieser Film voll einlöst. Die Möglichkeiten der englischen Gossensprache sind umfangreich; umso schockierender als diese Sprache in anonymen Briefen im englischen Littlehampton der 1920er Jahre auftaucht. Die Verdächtige steht schnell fest: Die Briefe können nur von Rose Gooding stammen, die trinkt, flucht und auch noch Irin ist! Nur eine Polizistin - was es in den 20er Jahren ebenfalls ziemlich unerhört ist - vermutet jemand anders hinter den Briefen. Ein Staraufgebot mit Olivia Colman, Jessie Buckley und Timothy Spall sorgt für beste Unterhaltung.
Ulrich Sonnenschein liebt britische Komödien und fühlt sich von "Kleine schmutzige Briefe" mal wieder bestätigt.||
Georg Büchners "Leonce und Lena" ist ein unverwüstlicher Klassiker. Regisseurin Charlotte Sprenger versetzt die beiden Königskinder am Staatstheater Kassel in die Welt der Superreichen. Langeweile und Dekadenz sind vom Text gedeckt und sogar der Schaum, mit dem die Bühne geflutet wird. Gelangweilter als Jonathan Stolze kann man den "Leonce" kaum geben, und Annett Kruschke ist eine großartige "Queen of Popo". Und doch bleibt eine gewisse Unzufriedenheit, weil allzu viele Anspielungen, die Büchners Text auch enthält, nicht eingelöst werden.
Andreas Wicke war in "Leonce und Lena" am Staatstheater Kassel hin- und hergerissen zwischen der großartigen Leistung der Schauspieler und der arg eindimensionalen Interpretation der Regisseurin||
Das Museum Giersch in Frankfurt würdigt die Malerin Louise Rösler mit einer Einzelausstellung. Rösler hatte es schwer - nicht etwa weil sie als Frau gemalt hätte, sondern weil der Zweite Weltkrieg dazwischen fuhr. Ihre Gemälde handeln von der Großstadt, sind bunt und kleinteilig. Sie war hervorragend ausgebildet, aber im Krieg wurde ihr Atelier ausgebombt. Nach Königstein evakuiert, saß sie in einem kleinen Zimmer und malte unverdrossen weiter, zum Beispiel auf die Rückwand einer Schranktür. Nach dem Krieg wurde ihre Malerei abstrakter und sie begann, Collagen anzufertigen, die durchaus als Kommentare auf die Zeit gelesen werden können, wenn sie etwa die Verpackung von gerade auf den Markt gekommenen Antibaby-Pillen verarbeitet. Röslers Werke wurden immer mal wieder ausgestellt, aber dank des Museums Giersch ist jetzt erstmals ein Überblick über ihr gesamtes Schaffen möglich.
Tanja Küchle war merklich von der Malerin Louise Rösler im Frankfurter Museum Giersch angetan.||
Die Oper "In seinem Garten liebt Don Perlimplín Belisa" am Bockenheimer Depot beginnt wie eine Komödie - ein verklemmter Bücherwurm wird gedrängt, eine sehr viel jüngere Frau zu heiraten - und schlägt um in eine Tragödie. Don Perlimplín kann die Bedürfnisse seiner Gattin Belisa in der Hochzeitsnacht nicht erfüllen und drängt sie, sich einen Liebhaber zu nehmen. Der stellt sich als Don Perlimplín höchst persönlich heraus, der Belisa tot in die Arme sinkt. Klingt abstrus, gewinnt aber vielleicht seinen Sinn, wenn man weiß, dass sowohl der Textdichter Federico García Lorca als auch der Komponist Wolfgang Fortner homosexuell waren. Belisa verlässt jedenfalls am Schluss laut mit der Tür schlagend die Bühne.
Meinolf Bunsmann gab der Text der Oper "In seinem Garten liebt Don Perlimplín Belisa" einige Rätsel auf, war jedoch von Wolfgang Fortners Musik begeistert.||
Wer das Museum Wiesbaden betrat, wurde schon seit langem von Rebecca Horns Kunstwerk "Jupiter im Oktogon" begrüßt. An der Decke der Eingangshalle hängt ein Spiegel, der sich in einem Bodenspiegel spiegelt. Das erzeugt eine derartige Tiefe, dass manchem Betrachter schwindelt. Nun feiert die international bekannte Künstlerin aus dem Odenwald 80. Geburtstag, und sie hat sich sozusagen selbst beschenkt, indem sie dem Museum Wiesbaden 60 Dauerleihgaben aus allen ihren Schaffensperioden überließ. Ihre zum Teil raumfüllenden Installationen sind so groß, dass sie nur nacheinander gezeigt werden können.
Stefanie Blumenbecker über ein großzügiges Geburtstagsgeschenk, das Rebecca Horn dem Museum Wiesbaden machte.||
Die Tochter einer adligen Familie möchte den Sohn eines Autohändlers heiraten. Weil sie Einwände ahnt, besorgt sie sich Genmaterial ihrer Eltern und Schwiegereltern in spe und lässt es analysieren. Alle waren sie bisher auf ihre rein französische Herkunft stolz, doch der Schwiegervater stellt sich nun zu 50 Prozent als deutsch heraus, die Schwiegermutter zu 50 Prozent als englisch; ihre eigene Mutter ist portugiesischer Herkunft und beim Vater steckt ein Indianer im Stammbaum. In dieser französischen Knallkomödie steckt der Witz im schnellen Schlagabtausch, und wer des Französischen einigermaßen mächtig ist, sollte sich diesen Film im Original anschauen.
Ulrich Sonnenschein bescheinigt der Filmkomödie "Oh la la: Wer ahnt denn sowas?" einigen Witz.||
Barbara Kingsolver, Autorin zahlreicher, vielfach übersetzter Romane, stellt ihren neuen Roman "Demon Copperhead" im Literaturhaus Frankfurt im Rahmen ihrer Welttournee vor. Sie hat für ihn u.a. den Pulitzerpreis und den Woman's Prize for Fiction bekommen. Der große Roman gewährt einen tiefen Blick ins ländliche Amerika, dessen Bewohner in der öffentlichen Meinung kaum eine Rolle spielen: In den Apalachen, der gebirgigen Region, die sich weit über Ostküste bis hoch nach Kanada erstreckt, leben Menschen oft in Trailerparks, in großer Armut, herrschen Opiod-Krise und Tablettensucht.
Mario Scalla war bei einer Lesung dabei, die durch die Leistung von Schauspieler Robert Stadtlober an Wucht gewann||
Es gab einmal eine Zeit, da war die Erinnerung an eine bestimmte Musik mit der Erinnerung an eine Plattenhülle verbunden. Anton Corbijn widmet seinen Film "Squaring the Circle" den kompromisslosesten Designern dieser Plattenhüllen: zwei Designern von "Hipgnosis". Als es noch nicht die Möglichkeiten der elektronischen Bildbearbeitung gab, zündeten sie halt einen Stuntman an, wenn eine Plattenhülle von Pink Floyd einen brennenden Mann zeigen sollte. Mit zur Wirkung des Films trägt ein Kunstgriff von Anton Corbijn bei: Die Bilder sind schwarz-weiß gehalten, nur die Plattenhüllen leuchten in Farbe. Ein Film für alle, die die Musik der 70er und frühen 80er Jahre lieben sowie für alle, die sich für Design interessieren.
Ulrich Sonnenschein ließ sich vom Film "Squaring the Circle" in die Popmusik der 70er Jahre entführen.||
Selbst mal mit einem Werk in einer großen Kunstausstellung vertreten sein, wäre das nicht schön? Der französische Künster Philippe Thomas hat das möglich gemacht. Welche Personen wurden gesucht? Kunstsammler oder auch Kulturinstitutionen, die sich die Urheberschaft an Kunstwerken kaufen möchten – und zwar bei der Agentur des Künstlers Philippe Thomas.
Gudrun Rothaug kannte den "Künstler-Künstler" nicht und empfiehlt die Schau auf der Maininsel in Frankfurt||
"Die Hamletmaschine" ist ein "Musiktheater in fünf Teilen", das Wolfgang Rihm auf den gleichnamigen Text von Heiner Müller komponierte. Seit seiner Uraufführung 1987 war es selten live zu erleben, doch nun setzt sich das Staatstheater Kassel überzeugend für das monumentale Stück ein. Auf den "Ruinen von Europa" entfaltet sich eine Studie über das Scheitern von Revolutionen und die zerstörerische Natur des Menschen. Die spartenübergreifende Produktion von Oper, Schauspiel und Tanz_Kassel regt damit auch zum Nachdenken über die Gegenwart an.
Stephan Hübner war am Staatstheater Kassel von der Musik überwältigt und bekam viel Denkfutter||
"Auslöschung. Ein Zerfall" ist eigentlich ein Roman des großen Österreich-Hassers Thomas Bernhard, den Felix Metzner für die Bühne im Staatstheater Darmstadt adaptiert hat. Alles, was an Österreich hassenswert ist - die nationalsozialistische Vergangenheit, die Heuchelei der katholischen Kirche - läuft für Bernhard in einem Begriff zusammen: Wolfsegg, und dieses Wolfsegg muss ausgelöscht werden. Auf der Darmstädter Bühne erklingt der typische Bernhard-Sound. Und leider muss man feststellen, dass seine Österreich-Kritik in letzter Zeit wieder an Aktualität gewinnt.
Ursula May erlebte in Darmstadt mit "Auslöschung. Ein Zerfall", wie eine neue Generation von Theatermachern mit Thomas Bernhard umgeht.||
Die japanische Geigerin Midori ist auf Tournee - mit dem Violinkonzert von Antonin Dvořák und der Prague Philharmonia unter der Leitung von Eugene Tzigane. Die Frau mit der Wunderkindkarriere, 1971 geboren, als Kind übergesiedelt in die USA, spielt absolut bemerkenswert: Man hört ihre legendäre perfekte Technik und blitzsaubere Intonation, die sie auf ihrer Guarneri-Geige von 1734 produziert, ganz edle und einfach schöne, elegante Töne.
Meinolf Bunsmann hat im Kurhaus Wiesbaden Dvořáks Achte für sich neu entdeckt||
Veit Helmers Film "Gondola" handelt von einer Seilbahn in Georgien mit genau zwei Gondeln. Die Gondeln werden von den Schaffnerinnen Iva und Nino geführt, und in den wenigen Sekunden, in denen sich die Gondeln über dem Tal treffen, funkt es zwischen den beiden. Mit jeder Fahrt bauen sie die Gondeln etwas um oder basteln an ihrer Verkleidung. Nur ein einziges Wort fällt, aber paradoxerweise lebt dieser Stummfilm von den Geräuschen und der Musik. Veit Helmer dreht am liebsten in den Ländern des Kaukasus, weil er hier seine poetischen Film-Ideen am besten umsetzen kann.
Ulrich Sonnenschein war von Veit Helmers neuestem Film "Gondola" angetan.||
PEN-Clubs für deutsche Schriftsteller gab und gibt es mehrere, darunter den vor 90 Jahren gegründeten Exil-PEN. PEN steht für "Poets, Essayists, Novelists", doch inzwischen können Vertreter aller schreibenden Berufe Mitglied werden. Der Deutsche Exil-PEN wurde 1934 unter anderen von Lion Feuchtwanger und Ernst Toller in Großbritannien gegründet. Auf einer Festveranstaltung in der Deutschen Nationalbibliothek Frankfurt wurde die Mission des Exil-PENs als gescheitert bezeichnet, denn Zensur sowie Gründe, ins Exil zu gehen, gibt es bis heute. Doch immerhin ist für deutsche Schriftsteller das Exil inzwischen freiwillig, wie für Barbara Honigmann, die in Straßburg lebt. Und Deutschland ist zu einem Ort geworden, wo Schriftsteller ihr Exil suchen, wie Shida Bazyar aus dem Iran.
Mario Scalla über eine eindrückliche Festveranstaltung zu 90 Jahre Deutscher Exil-PEN in der Deutschen Nationalbibliothek Frankfurt||
Das Museum Angewandte Kunst Frankfurt präsentiert Kunsthandwerk und Design aus Frankfurt und der ganzen Welt. Die neue Sonderausstellung „In Serien – 40 Jahre Licht. Form. Material.“ stellt die Arbeit von Manfred Wolf und Jean-Marc da Costa vor. Kennengelernt haben sich beide an der HfG in Offenbach und noch während ihres Studiums haben sie die ersten Leuchten entwickelt. Alte und neue Stücke sind zu sehen - eine kleine Geschichte eines strahlenden Erfolgs.
Darf man dazu noch "Lampe" sagen? Stefanie Blumenbecker ist von den handgemachten Objekten im MAK Frankfurt beeindruckt||
Im zeitgenössischen Tanz spielt der Bühnenraum meist keine große Rolle. Anders in der Choreografie "Glue light blue" von Nadav Zelner am Staatstheater Wiesbaden: Hier tanzen selbst die auf der Bühne herumliegenden Steine, Wände werden hochgezogen und senken sich. Die Szene ist in die Farben hellblau und rostbraun getaucht. Die Musik des israelischen Choreografen klingt orientalisch, und seine Themenwelt entführt in eine fantasievolle Kindheit. Dazu kommt eine hervorragende Leistung des Ensembles, die vom Publikum mit anhaltendem Applaus belohnt wurde.
Ursula May erlebte einen magischen Tanzabend mit "glue light blue" am Staatstheater Wiesbaden||
Die Themen Flucht und Migration sind von beklemmender Aktualität. Doch wie kann man Kindern und Jugendlichen davon erzählen? Das unternimmt das Berliner Performancekollektiv andcompany&Co. in seinem neuen Stück beim Festival "Starke Stücke". Es nimmt Bezug auf Irmgard Keuns Exil-Roman „Kind aller Länder“, heißt jedoch „Land aller Kinder“. Es geht darum, Gegenwart mithilfe der Vergangenheit besser zu verstehen.
Esther Boldt lobt die Sensibilität der Kindertheatermacher aus Berlin||
Wollte man Hannah Arendts Diktum von der "Banalität des Bösen" durch einen Film illustrieren, dann wäre das "The zone of interest" von Jonathan Glazer. Er spielt in einer Villa, die nur durch eine Mauer vom Vernichtungslager Auschwitz getrennt ist. Dort führen der Kommandant von Auschwitz Rudolf Höß (Christian Friedel) und seine Frau Hedwig (Sandra Hüller) ein banales, nationalsozialistisches Familienleben. Der Film lebt davon, was er nicht zeigt und höchstens auf der Tonspur aus dem Lager hinüberdringt. So ist der Holocaust bisher nie künstlerisch umgesetzt worden; doch erfordert der Film eine Menge Vorwissen und ist keinesfalls als Einführung in das nationalsozialistische Gewaltsystem für Jugendliche geeignet.
Ulrich Sonnenschein findet, der Holocaust-Film "The zone of interest" sei anders als alle anderen Filme.||
Wer ihn bekommt, gilt als vielversprechendes Talent. Der renommierte “Pontopreis MMK“ für Nachwuchskünstlerinnen und -künstler wird alle zwei Jahre vergeben – von der Jürgen-Ponto-Stiftung und dem Museum für Moderne Kunst, kurz MMK, in Frankfurt. Verbunden ist mit dem Preis ein Zugewinn an Renommee, 10.000 Euro Preisgeld und eine Ausstellung. Die diesjährige Preisträgerin ist die Französin Christelle Oyiri. In ihrer eigens fürs Zollamt entwickelten Arbeit, einer so unheimlichen wie verlockenden Rauminstallation, widmet sie sich dem Phänomen der Choufs und dem Scheitern der utopischen Idee des französischen Banlieues. Ihre künstlerische Arbeit ist enorm vielschichtig: sehr analytisch und gleichzeitig sehr poppig, sehr jung und futuristisch, sehr düster, aber gleichzeitig auch sehr gefühlvoll.
Die französische Künstlerin ist jemand, den man auf der Liste haben muss, sagt Tanja Küchle ||
Wer die Verdi-Oper "Otello" am Staatstheater Darmstadt besucht, wird eine riesige Leinwand über der Bühne aufgespannt finden, auf der Otello, Jago und Desdemona als Avatare in einem Computerspiel auftauchen. Die Idee ist nicht schlecht, doch wird dafür immer wieder die Handlung unterbrochen, um das Publikum per Handy über den weiteren Ablauf abstimmen zu lassen. Die Zuschauer reagierten mit Buh-Rufen und Rufen nach mehr Musik. Endgültig zur Reizüberflutung wird die Inszenierung durch mehrere Bildschirme, auf denen alles Mögliche abgehandelt wird. Eine Oper lebt bekanntlich von der Musik. Die war durchaus achtenswert umgesetzt, ging aber durch die Inszenierung unter. Nach der Pause blieben zahlreiche Plätze leer. Das Regie-Team schien am Schluss der Vorstellung die Verstörung zu genießen, die es unter den Zuschauern angerichtet hatte.
Susanne Pütz brummte nach der Aufführung von "Otello" am Staatstheater Darmstadt der Kopf.||
"Der Traumgörge" ist eine Oper, die Alexander Zemlinsky Anfang des 20. Jahrhunderts im Auftrag von Gustav Mahler komponiert hat. Weil Mahler als Jude aus Wien vertrieben wurde, kam es jedoch damals nicht zur Aufführung. Die Oper Frankfurt hat nun dieses selten gespielte Werk aufgegriffen. "Traumgörge" ist ein verträumter Einzelgänger. Die auf den ersten Blick simple Handlung gewinnt vor dem Hintergrund von Sigmund Freuds Einsichten eine komplexe zweite Ebene. Die Musik klingt nach einer Mischung von Mahler und Wagner, ist aber durchaus originell. Herausragend Zuzana Marková als "Gertraud".
Natascha Pflaumbaum beglückwünscht die Oper Frankfurt zur Aufführung von Alexander Zemlinskys "Der Traumgörge".||
Wie immer kurz vor der Oscar-Verleihung laufen im Moment keine großen Filme an, man kann aber richtig schöne, kleine Entdeckungen machen - und das kann große Kinokunst sein: Etwa der Dokumentarfilm mit dem schönen Titel: "And the King Said: What a Fantastic Machine“, ein Film über bewegte Bilder. König Edward VII. soll diesen Satz 1902 gesagt haben, als er den Film über seine Krönung gesehen hatte. Worum gehts in diesem Film?
Daniella Baumeister hat den Eindruck, Filmemacher Axel Danielson und Maximilien Van Aertryck hätten sich für "And the King Said, what a Fantastic Machine" sämtliche Bilder dieser Welt angeschaut||
Aus schrecklichem Anlass hat der Hanauer Çetin Gültekin sich vorgenommen, die Geschichte seiner Einwandererfamilie zu schreiben. "Geboren, aufgewachsen und ermordet in Deutschland" ist seinem Bruder Gökhan gewidmet, der vor vier Jahren bei dem Anschlag in Hanau umkam. Das Buch fängt mit seinem Vater an, der aus der Türkei angeworben wurde, um in Deutschland eine Autobahn zu bauen. Deutschkurse für die Arbeitsmigranten gab es nicht; mit hohem Arbeitsethos schuf der Vater eine Existenz für seine Familie. Über den Bruder Gökhan schreibt Çetin Gültekin auch Dinge, die die Familie lieber verschwiegen hätte; aber er hat sich absolute Ehrlichkeit vorgenommen. Und dann der Tod in einem rassistisch motivierten Anschlag. Ein Buch für alle, die erfahren wollen, wie das Leben in einer Einwandererfamilie tatsächlich aussieht.
Mario Scalla war beeindruckt von der Lesung, die Çetin Gültekin aus seinem Buch "Geboren, aufgewachsen und ermordet in Deutschland" gab.||
Frankfurt hat ein neues Theater: Im Ignatz Bubis-Gemeindezentrum öffnete das Jüdische Theater mit der Komödie von Woody Allen "Broadway Danny Rose". Unsere Kritikerin Esther Boldt war etwas erstaunt über die Wahl dieses Stücks, sind doch die Vorwürfe gegen Woody Allen wegen Missbrauchs der Adoptivtochter seiner früheren Partnerin Mia Farrow nicht geklärt. Und tatsächlich wirken die Witze, die Allen auf Kosten von Frauen in seiner Komödie macht, reichlich abgestanden.
Esther Boldt wünscht dem Jüdischen Theater Frankfurt bei der Auswahl seiner nächsten Stücke eine glücklichere Hand||
Die Kunstsammlung des genossenschaftlichen Bankhauses befasst sich ausschließlich mit Fotografie. In den Ausstellungsräumen am Platz der Republik in Frankfurt werden seit vielen Jahren Kunstwerke gezeigt, die das breite Spektrum der künstlerischen Fotografie vor Augen führen. Die aktuelle Ausstellung heißt "Von hier aus – eine Bestandsaufnahme" und versucht genau das zu klären: Wo steht die Fotografie heute? Wie verändert sie sich durch die Digitalisierung, was kann Fotografie in Zukunft sein? Teile der Ausstellung befassen sich mit Fragen von Theorie und Geschichte der Fotografie, Digitales ist insofern ein Thema, als eine unübersehbar große Fülle an Möglichkeiten angedeutet wird. Das ist ein Ritt durch Geschichte und Möglichkeiten, macht neugierig auf die kommenden Ausstellungen - zumal die Kuratoren um Christina Leber immer ausführlichen und exzellenten Lesestoff dazu anbieten. Mit diesem kostenlosen Heft in der Hand erschließt sich auch diese Kunst besser und führt weiter.
Stefanie Blumenbecker war in der DZ Bank und empfiehlt die Lektüre des Katalogs||
Sind wir nicht alle ein bisschen Woyzeck? Regisseurin Eva Lange begreift Büchners "Woyzeck" am Hessischen Landestheater Marburg nicht als Individuum, sondern als Kollektiv. Deswegen stellt sie einen Chor von acht Personen auf die Bühne, die den Text gemeinsam skandieren. Und tatsächlich eignet sich Büchners Sprache gut zum Skandieren. Und weil der "Woyzeck" ein Fragment ist, erlaubt sich Eva Lange, noch einen modernen Schluss hinzu zu dichten: Woyzeck kommt in eine Gewaltpräventions-Therapie und Marie in ein Mutter-Kind-Heim. Manchmal wirkt das Ganze etwas verkopft, aber jedenfalls gibt es viel Stoff zum Nachdenken in Marburg.
Natascha Pflaumbaum über eine ungewöhnliche "Woyzeck"-Aufführung am Hessischen Landestheater Marburg||
"Shallow Lakes" ist eine Installation der Künstlerin Melike Kara. Sie ist in Deutschland geboren und hat einen kurdischen Familienhintergrund - der spielt hier eine bedeutende Rolle. Ihre Gestelle, die mit bemalten Leinwänden bespannt sind, bieten einen eher abstrakten Assoziationsraum. Man sieht festgefrorene Seen, bemerkt Kälte des Metalls, nach oben wandert der Blick: Zu Wandfolien, Tapeten, großformatigen alten Hochzeits- und Familienfotos, denen man ansieht, dass dort die Eltern- und Großelterngeneration verewigt wurde. In den Collagen wird einiges deutlich, es bleiben viele Unschärfen. Steckt Zerrissenheit in dieser Migrationsgeschichte? Wer durch diese Ausstellung geht, sammelt Informationen, setzt sich das alles peu à peu zusammen. Das ist Erinnerungsarbeit, ein Sammeln ohne Sicherheit. Es bleiben Geheimnisse und Rätsel. Insofern ist dieses Kunstwerk ein Ort für die verstreute kurdische Community - aber auch für jedeermann - um zu schauen, wie familiäre Vergangenheit kulturell aufbewahrt und erinnert werden kann.
Mario Scalla hat sich Zeit genommen und viele Details in dieser riesigen Collage entdeckt ||